taz-Adventskalender (15): Märchen auf dem S-Bahnhof
Es schneit – und da versagt das Fahrrad als zuverlässiges Verkehrsmittel. Die S-Bahn-Fahrt ist dafür gar nicht so nervig wie befürchtet.
Vorweihnachtshektik, unter coronabedingten Masken, noch anonymer. Begegnungen finden in Eile und mit Sicherheitsabstand statt. Und dann öffnet sich plötzlich doch manchmal eine Tür: Eine freundliche Geste, eine Hilfeleistung, ein Gespräch. Die taz.berlin berichtet in ihrem Adventskalender 2021 von solchen Türchen, die die Anonymität einen Moment vergessen lassen.
Es hat geschneit. Während der Teenager morgens beim Anblick der hauchdünnen Puderzuckerschicht auf den Gehwegen sofort ausrastet vor Begeisterung, ziehe ich mir erst mal die Decke über den Kopf. Ich hasse Schnee!
„Fahr lieber mit der Bahn“, rät mein Mann, als ich schon an der Tür bin. Seit Corona nehme ich eigentlich immer das Rad. Aber nach wenigen hundert Metern auf glatter Straße sehe ich ein, dass das keine gute Idee ist. Also doch S-Bahn.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl überholt mich eine Frau mit Kinderwagen, die unbedingt vor mir da sein will. Jetzt keine Diskussionen. Ich lasse ihr den Vortritt in die kleine Kabine. Als ich kurz darauf mit Rad oben auf dem S-Bahnhof ankomme, ist die Bahn gerade weg. Auf dem Bahnsteig ist es trotzdem ziemlich voll.
Ich weiß, warum ich Fahrrad fahre. Diese Warterei in der Kälte nervt fast so wie der Schnee. Beim Versuch, ein Buch zu lesen, beschlägt dank Maskenpflicht am Bahnsteig die Brille. Es kann kein guter Tag mehr werden.
Leise und deutlich hörbar
Da dringt etwas an mein Ohr, was so absolut nicht zu alldem um mich herum passt: müde Menschen, kalter Bahnsteig, Schneematsch an den Füßen. Es ist eine sehr leise, aber doch deutlich hörbare Melodie, die da über den Bahnsteig klingt. Tatsächlich, da spielt jemand Geige. Morgens um acht, in der Dezemberkälte. Unfassbar.
„Bald nun ist Weihnachtszeit“ ist es. Sehr sauber gespielt übrigens.
Ob das ein Kind ist, das noch ein letztes Mal übt, bevor es das heute in der Schule spielt? Ich drehe mich um.
Auf einer Bank sitzt ein Mann mit dreckiger wattierter Jacke, auf dem Kopf eine schwarze Mütze mit Ohrenklappen. Er ist sicher schon um die sechzig und sieht nicht aus, als sei das ein Lied aus seiner Kinderzeit. Es ist eine Szene, die aus einem alten tschechischen Märchenfilm sein könnte.
Dann kommt die Bahn.
Beim Losfahren schaue ich noch mal durchs Fenster. Ich hätte ihm Geld geben sollen, denke ich.
Die Melodie bleibt mir den ganzen Tag im Kopf.
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