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Jeder fünfte Schüler psychisch belastetWo bleibt der Krisengipfel?

Ralf Pauli
Kommentar von Ralf Pauli

Klimakrise, Krieg, Leistungsdruck – darunter leiden Schü­le­r:in­nen laut Schulbarometer. Um ihnen zu helfen, müsste Unterricht radikal anders werden.

Unter Druck: Je­de:r fünfte Schü­le­r:in berichtet von psychischen Problemen Foto: Thomas Trutschel/photothek/imago

E s fällt schwer, das zuzugeben, aber in einem Punkt haben AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht recht: Wir brauchen dringend einen Untersuchungsausschuss im Bundestag, der die Pandemiezeit aufarbeitet.

Nicht, um dort krude Impfmärchen zu hören oder uns mit dem altbekannten Diktaturgefasel herumzuschlagen. Sondern um allen wirklichen Covid-Leidtragenden zu zeigen: Wir – Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Medien – sind lernfähig. Wir nehmen eure Erfahrungen ernst, zumindest jetzt. Vor allem an junge Menschen ist dieses ­Signal überfällig: Stichwort Schulschließungen.

Es ist traurig, dass es für die kritische Rückschau auch vor dem Aus der Ampel keine politischen Mehrheiten gab. Noch schlimmer aber ist, dass die Bedürfnisse und Ängste von Kindern und Jugendlichen offensichtlich bis heute nicht ernst genommen werden. Das jedenfalls bezeugen die mehr als 1.500 Kinder und Jugendlichen, die die Robert Bosch-Stiftung für eine repräsentative Studie zum Schulalltag befragt hat.

Ihre Antworten, die am Mittwoch im „Deutschen Schulbarometer“ veröffentlicht wurden, sprechen Bände: Je­de:r fünfte Schü­le­r:in sieht sich aktuell psychisch belastet. Und zwar nicht allein wegen der Weltlage – hier nennen die Befragten am häufigsten Kriege und Klimakrise –; auch Leistungsdruck, belastete Beziehungen zu Lehrkräften und Mit­schü­le­r:in­nen sowie ein schlechtes Lernklima stressen Schüler:innen.

Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen sind häufiger psychisch belastet

Die Folge: Ein Fünftel fühlt sich in der Schule dauerhaft nicht wohl. Gleichzeitig erhält ein Viertel der Kinder und Jugendlichen, die psychosoziale Hilfe in Anspruch nehmen möchten, an ihrer Schule selbst auf Nachfrage keine Hilfe. Auf außerschulische Angebote ist leider auch kein Verlass: Ein therapeutisches Erstgespräch kommt im Schnitt erst nach vier Monaten zustande.

Das Barometer bestätigt damit, was Schü­ler­ver­tre­te­r:in­nen immer wieder kritisieren: Obwohl psychische Erkrankungen auch nach der Pandemie ein Riesenproblem sind, hat das Thema an Schulen keine Priorität. Das lässt sich auch an anderen Zahlen ablesen: Nach einer bundesweiten Erhebung des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) vom August dieses Jahres muss sich ein:e Schul­psy­cho­lo­g:in im Schnitt um 5.218 Schü­le­r:in­nen kümmern.

Möchte man hier noch etwas Positives finden, dann ließe sich anführen, dass der Bund und einige Länder mittlerweile Modellprojekte zu Mental Health an Schulen gestartet haben. Rein statistisch gesehen bleibt es aber ein Glücksfall, ob ein:e Schü­le­r:in psychologisch betreut werden kann.

Oder – eher wahrscheinlich – eine Frage der sozialen Herkunft. Zumindest sind Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen fast doppelt so häufig psychisch belastet. Auch das ein Ergebnis des Schulbarometers. Mehr Personal an Schulen hieße also auch: die Chancenungleichheit im Land etwas abzufedern.

Unterricht muss radikal anders werden

Es wäre schön, wenn der Noch-Kanzler auch dazu mal einen Krisengipfel einberufen würde. Immerhin betrifft die jugendliche Psyche auch die nationalen Wirtschaftsinteressen: Psychische Erkrankungen, betonen Forscher:innen, sind der Hauptgrund dafür, dass Menschen arbeitsunfähig werden. Die gute Nachricht für die Länder: Sie müssen nicht auf Olaf Scholz (oder Friedrich Merz) warten, um aktiv zu werden.

Es gibt Möglichkeiten, schnell Druck vom Kessel zu nehmen. Aber dafür müssten Ministerien und Schulen den Unterricht radikal anders gestalten: weg vom Leistungsprinzip mit Noten, klaren Hierarchien und Frontalunterricht. Hin zum eigenständigen Lernen, bei dem Lehrkräfte tatsächliche Lern­be­glei­te­r:in­nen sind.

Pilotprojekte wie die Bonner Siebengebirgsschule zeigen: Ist der Unterricht komplett anders gestaltet, setzt das Kapazitäten für individuelles Feedback frei. Dieses wiederum kann den Ausschlag dafür geben, ob sich Schü­le­r:in­nen wertgeschätzt fühlen oder nicht. Auch das ist ein Ergebnis der Umfrage der Bosch-Stiftung.

Übrigens können sich Ministerien und so manche Schule auch in Sachen Partizipation bei solchen Pilotprojekten eine Scheibe abschneiden. Es lohnt sich, junge Menschen mitreden und mitentscheiden zu lassen. Mehr Mitbestimmung an den Schulen würde dazu beitragen, dass sich junge Menschen im Land endlich ernster genommen fühlen. Gerade in diesen Zeiten wäre damit viel gewonnen.

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Ralf Pauli
Redakteur Bildung/taz1
Seit 2013 für die taz tätig, derzeit als Bildungsredakteur sowie Redakteur im Ressort taz.eins. Andere Themen: Lateinamerika, Integration, Populismus.
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6 Kommentare

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  • Teil zwei:



    Ich frage mich manchmal, ob wirklich die Pandemie allein als Ursache für die Zunahme psychischer Störungen bei Jugendlichen anzusehen ist. Ist das nicht nur teilweise auch eine billige Ausrede, damit wir an anderen Baustellen nicht arbeiten müssen?



    Ich würde mich eher fragen, ob nicht die vermehrten Nutzung sozialer Medien während der Pandemie (das fällt dann eben zeitlich zusammen) einen ganz wesentlichen Anteil am psychischen Erkrankungen haben könnte. Dass das eine Rolle spielt, zB für die Wahrscheinlichkeit, eine Depression zu bekommen, kann man überall nachlesen.



    In diesem Zusammenhang ist es natürlich super, dass die Schüler nun an vielen Schulen, auch Handys und iPads ständig verwenden dürfen. Muss man sich da wundern, dass es nicht besser wird? (Selbst wir Erwachsene tun uns sehr schwer damit, unseren Konsum zu beschränken)



    Außerdem:



    Angesichts von Artensterben und Klimakrise blickt auch die Jugend nicht mehr so zuversichtlich in die Zukunft.



    Es mag noch andere Probleme geben, die ich jetzt vielleicht gar nicht auf dem Schirm hatte.



    (Entschuldigung, das wurde jetzt ein wirklicher „rant“; war gar nicht so beabsichtigt)

  • Alles richtig, aber eine hohe Stressbelastung der Kinder gab es auch schon vor Corona. Das ist kein neues Problem.

    www.rki.de/DE/Cont...ressbelastung.html

    Corona ist Geschichte - die Schulen wieder offen. Das jetzt und heute ist relevant und das hat nicht mehr viel mit der Pandemie zu tun imho.

  • Ich denke, es würde absolut Sinn machen, wenn es an jeder Schule verpflichtend einen Schulpsychologen oder einen Sozialarbeiter geben müsste. Da geht es oft genug um Fälle, wo einfach mal ein Fachmann her muss.



    Ich begegne aber auch oft einem anderen interessanten Phänomen: Schülerinnen (tatsächlich sind es meistens Mädchen), die -zum Teil über Monate, wenn nicht gar Jahre - irgendwelche nicht genau diagnostizierten Störungen haben. Dann fehlen sie übers Jahr gesehen an einem Tag von vieren, ihre Eltern bitten um bzw. fordern (!) ganz massiv Rücksichtnahme in jedweder Hinsicht (Beispiel: am besten gar keine Noten machen, eine andere vielleicht gar nicht erst ansprechen; Und das, ohne dass es je ein Problem mit der betreffenden Lehrkraft gegeben hätte);



    Das Interessante ist dann: man ist bereit, Rücksicht zu nehmen, fordert aber im Gegenzug, dass das leidende Kind Therapie in Anspruch nimmt, auf Kur geht oder was auch immer. Dann reagieren Eltern oft empört und man versucht, sich dem zu entziehen. Das ist dann schon interessant, denn eigentlich sollte ja auch die Familie ein Interesse daran haben, dass das Kind gesundet.

  • Ein wichtiger Artikel zu einem wichtigem Problem. Jedes vierte bis sogar jedes dritte Kind wird im Moment statistisch gesehen im Laufe des erwachsenenwerdens zu einem Fall für den Psychiater. Meist leider aus sehr ernsthaften Gründen. Und die Hilfe gibt es eben nur, wenn man entsprechende intensiv dahinter her ist. An der Stelle sehe ich ein oben nicht benanntes Problem. Je nach Alter des Kindes gibt es nur Hilfe, wenn die Eltern hartnäckig genug sind. Und das ist bei den ganzen Hindernissen keineswegs selbstverständlich.

    Es kommt hinzu, dass man zwar nach "durchschnittlich 4 Monaten" endlich therapeutische Hilfe bekommt. Ob diese dann auch nur dem Mindeststandart entspricht ist damit aber noch nicht gesagt.

    Das Problem ist groß. Daraus wieder ein Arm gegen Reich zu machen trift es aber nicht.

  • Leider interessiert sich die Politik nicht für Menschen, die nicht wählen dürfen.

    Und der Wirtschaft ist das doch auch egal, die wandert eben ab, wenn es hier niemanden gibt, der die Arbeit macht.

    Unser großes Problem ist leider der Kapitalismus, der immer mehr seine unschönen Seiten zeigt.

    Da ist leider kein Platz für kranke, schwache Menschen.

    Wäre schön wenn sich was ändern würde, aber ich wage mal die kühne Behauptung, dass sich nichts ändern wird.

  • "weg vom Leistungsprinzip mit Noten"

    Ich frage mich, ob sie das nun wirklich ernst gemeint haben. Als Hochlohnland mit hohen Lebenskosten gingen wir endgültig unter, wenn Leistung nicht mehr das Prinzip von Arbeit wäre. Wenn Schüler völlig frei von Leistungserwartung erzogen werden, kommt der Schock später an der Arbeitsstelle, falls ihn überhaupt jemand noch einstellt.