schlagloch: Totenbett der Demokratie
Die Politik des Weiterwurstelns gefährdet unserer System auf lebensbedrohliche Weise. Denn die Krankheitssymptome werden verdrängt statt behandelt
Georg
Seeßlen
geboren 1948 in München, Studium der Malerei an der Kunsthochschule München, ist freier Journalist und Autor und hat über 20 Bücher zum Thema Film veröffentlicht.
Die Schlagloch-Vorschau:
28.2. Ilija Trojanow
7.3. Nora Bossong
14.3. Charlotte Wiedemann
21.3. Jagoda Marinić
28.3. Mathias Greffrath
Wenn man die Ereignisse, die zur Bildung einer neuen Großen Koalition führen sollen, sowie die Protagonisten auf dieser sonderbar surrealistischen Bühne ansieht, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, einem politischen System, einer politischen Kultur beim Sterben zuzusehen. Man mag das als Auflösung der „Ära Merkel“ ansehen, als Schlussstrich unter die Geschichte der Sozialdemokratie, als zähes Ableben der „Volksparteien“. Vielleicht ist es aber mehr. Und findet, in anderen Bildern, mit anderen Protagonisten, auch in anderen Ländern Europas statt. Lähmung, Krampf, Ohnmacht, kurz gesagt: Agonie.
Unter der Agonie versteht man einen besonders unangenehmen Teil des Sterbens, der vom Aufbäumen wie von der Apathie begleitet ist, abgeleitet vom allgemeineren griechischen Agonia, das sowohl den Kampf als auch die Versammlung meint, vielleicht auch eine Verbindung von beidem. So wären wir, möglicherweise, am Totenbett eines Systems versammelt, das zumindest einige von uns wirklich geliebt haben. Am Totenbett der Demokratie. Denn was wir erleben in einigen Ländern Europas, ist wirklich einem Sterben sehr ähnlich. Zugleich entzieht sich die Hoffnung auf eine Wiedergeburt als transnationale und hoffnungsstarke Idee Europa immer weiter. In Agonie verfällt ein Herrschaftssystem, wenn die Herrscher selber zu schwach und orientierungslos sind, um die Komplexität ihrer Gesellschaften und Regularien zu handhaben.
Die Zaren, die sich auf ein altes Bündnis mit der Religion verließen, die französischen Könige, die sich in narzisstischem Pomp verloren, der österreichische Kaiser, der melancholisch vom „Weiterwurschteln“ raunzte, bevor ihm seine Welt um die Ohren flog. Agonie eines politischen Systems ist eingetreten, wenn seine Protagonisten es zwar immer noch perfekt, ja überperfekt repräsentieren, aber nicht mehr beherrschen. Warum sollte, was mit feudalen Systemen der Herrschaft geschieht, nicht auch mit demokratischen Regierungssystemen passieren, wenn niemandem etwas anderes einfällt als: Weiterwursteln.
Platon hat vor langer Zeit das Ende jeder Demokratie in der Tyrannei prophezeit. Deutlich machte er das an den Besitzverhältnissen, genauer gesagt am Mangel an Gerechtigkeit. Es scheint, als würden die despotischen, oligarchischen und tyrannischen Formen von Herrschaft sich bereits in der „sanften“ Form der Demokratie herausbilden, um in der despotischen Phase zu neuen Machtknoten zu werden, die schließlich den Umschlag in die pure Tyrannei bewirken. Es ist nicht ganz einfach, zu bestimmen, an welchem Punkt der Entwicklung wir uns befinden. Dass die despotischen, oligarchischen und tyrannischen Elemente indes immer weiter zunehmen, ist kaum noch zu leugnen. Fünf Punkte sind es möglicherweise, die diese Krankheit zum Tode der europäischen Demokratie ausgelöst haben:
1. Die „Postdemokratisierung“, von der Colin Crouch spricht, das heißt die innere Aushöhlung der demokratischen Instanzen und Beziehungen, bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer äußeren Formen. Unter dem Motto der Gefahrenabwendung höhlen sich die rechtsstaatlichen Grundlagen der Demokratie immer weiter aus. Renationalisierung und Remilitarisierung der Politik schaffen überdies neue antidemokratische Zonen, während man das, was man an Demokratie verliert, durch populistische Inszenierungen zwischen Talkshows und Referenden auszugleichen meint.
2. Die Unterwerfung der Politik unter das Diktat des „Neoliberalismus“, der sehr viel mehr ist als eine neue Spielart des Kapitalismus: die radikale Umwandlung des Menschen in das ökonomische Subjekt. Im sterbenden System der Demokratie gibt es keine ernstzunehmende Partei, die sich dieser Unterwerfung entgegenstellt.
3. Die steigende Anzahl von Menschen, die sich durch das demokratische System nicht repräsentiert fühlen, sei es, weil ihre Interessen sich besser ohne es durchsetzen lassen, sei es, dass sie empfinden, dieses System interessiere sich ohnehin nicht für ihre Belange. Es wächst die Zahl der Menschen, denen Demokratie im Wesentlichen egal ist. So wachsen die Kulte des Apolitischen, des Antipolitischen, des Metapolitischen und des Postpolitischen, die von den neuen Despoten nur besetzt werden müssen.
4. Die Verknüpfung der ökonomischen Interessen mit dem Aufstieg der rechtspopulistischen und neofaschistischen Bewegungen. Denn das eine ist nicht ohne das andere zu denken: Fundamentaler Neoliberalismus verlangt immer nach der Abschaffung demokratischer Kontrollen der ökonomischen Anarchie. Der Rechtspopulismus und der Neoliberalismus verstehen sich so gut, dass sie immer wieder in einer Person auftreten können, nicht nur bei Donald Trump.
5. Das Bündnis zwischen Demokratie und Kapitalismus basierte auf einem Glauben daran, dass sie die gerechteste, freieste und fortschrittlichste Gesellschaft schaffen könnten. An die freie Marktwirtschaft mitsamt ihrer alles fügenden „unsichtbaren Hand“ glauben heute wohl noch weniger Menschen als an die ausgleichende Kraft der Demokratie. In der Phase des Finanzkapitalismus ist jede Form von Kontrolle und Ausgleich entschwunden. Eine wirkliche Demokratie müsste sich gegen diesen entfesselten Kapitalismus wenden; der entfesselte Kapitalismus kann Demokratie wirklich nicht mehr brauchen.
Jedes einzelne dieser Krankheitssymptome wäre für das politische System der Demokratie lebensbedrohlich. Agonie entsteht dadurch, dass keines von ihnen einer Behandlung unterzogen wird; die Krankheit wird verdrängt. Glücklicherweise kann man Platon aber auch umdrehen. Die demokratische Zivilgesellschaft in Europa ist zwar zu einer Minderheit geworden. Aber zum Verschwinden lässt sie sich auch durch die Tyrannei des Neoliberalismus nicht so ohne Weiteres bringen. Und wenn diese Demokratie stirbt, dann wird sie eine neue schaffen. Früher oder später.
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