europäische union: Führung geht anders
Deutschland ist mächtig in der EU. Doch Merkels Regierungen haben es versäumt, daraus eine ausgleichende Mittlerrolle zu entwickeln
Stefan Reinecke
ist Autor im Parlamentsbüro der taz. Er beschäftigt sich mit Parteipolitik, vor allem mit der Linkspartei und der SPD, und Geschichtspolitik.
Der Streit um die Flüchtlingspolitik zeigt, wie weit der Zerfall der EU fortgeschritten ist. Ist es noch möglich, die Interessen von Grenzstaaten und Kernländern, von westlichen Einwanderungsgesellschaften und östlichen Staaten, die phobisch auf Migranten reagieren, auszutarieren? Wenn dies weiter missglückt, kann ein Dominoeffekt nationaler Abschottungen in Gang kommen. An dessen Ende wird von der Freizügigkeit im Schengenraum nicht viel übrig sein. Damit würde der Traum der Rechtspopulisten, die Rückabwicklung der EU zum losen Staatenbund, in greifbare Nähe rücken.
Merkel scheint in dieser verworrenen Lage die Stimme der Vernunft zu sein – während die panische CSU auf dem Weg ins rechtsautoritäre Lager ist, an der Seite von Österreich, Ungarn, Italien. Aber die Sache ist komplizierter, Merkel ist keineswegs unschuldig. Das europäische Malheur ist ein Echo von Fehlern, die auf ihr Konto gehen. Im Herbst 2015 hat Deutschland zu spät versucht, mit aller Macht eine europäische Lösung zu finden. Vor allem aber hat Berlin zuvor egoistisch an dem für Deutschland komfortablen Dublin-3-Abkommen festgehalten – und die Ränder ignoriert. Es war Merkels Innenminister, der Rom 2011 beschied, dass Italien „sein Flüchtlingsproblem selbst lösen“ müsse.
Dieser Satz spiegelt, nicht nur seiner Arroganz wegen, die Rolle Deutschlands in der EU wider, in ihrem ganzen widersprüchlichen Elend. Wenn der slowakische Innenminister Migranten in Lampedusa zum Problem der italienischen Innenpolitik erklärt, ist das der Fauxpas eines Provinzpolitikers. Wenn der deutsche Innenminister dies tut, wirft er einen Bumerang in die Luft.
„In der Politik werden immer wieder Fehler gemacht, aber die Macht in der Mitte ist der Akteur, der sich das am wenigsten leisten kann“, so der Politologe Herfried Münkler. Deutschland reklamiert seit der Eurokrise 2009 die Rolle der zentralen Macht in der Mitte. Aber Merkels Deutschland ist unfähig, diese klug auszufüllen. Es nutzt seine Macht zu oft, um eigene, kurzfristige Interessen durchzusetzen – und ruiniert so die Möglichkeit, Strategien für die ganze EU zu entwickeln.
Macht in der EU zu haben bedeutet nicht, wie im 19. Jahrhundert anderen Staaten mit Drohungen, Militär oder Zöllen den eigenen Willen aufzuzwingen. In der eng verflochtenen EU gilt eher das Konzept hegemonialer Stabilität. Der Job der Zentralmacht ist es demnach nicht, ruppig zu regieren, sondern dafür zu sorgen, dass der Laden läuft und alle auf ihre Kosten kommen. In der EU mächtig zu sein heißt, über die Fähigkeit zu verfügen, jederzeit Kompromisse stiften zu können und langfristig solide Verhältnisse zu garantieren – auch mal mit Selbstbeschränkungen. Aber dazu waren und sind die Merkel-Regierungen nicht in der Lage.
So hat Deutschland in der Eurokrise mit dem Fiskalpakt seine Macht benutzt, um den Südländern sein Sparkonzept aufzudrücken. Das war kurzfristig im deutschen Interesse – wer Kredite vergibt, will die auch zurückbekommen. Langfristig sieht es anders aus: Die deutsche Wirtschaft profitiert extrem vom Euro. Doch der wird langfristig nur überleben, wenn sich die Kluft zwischen den blühenden Zentren, wie Süddeutschland und Norditalien, und den verarmten Rändern langsam schließt. Derzeit geschieht das Gegenteil: Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Südeuropa unverändert auf Rekordniveau. Italien laboriert noch immer an den Spätfolgen der Finanzkrise und leidet am Euro – während Deutschland sogar von der Finanzkrise via niedrige Zinsen prächtig profitiert. Der Aufstieg der Rechtspopulisten, die den Euro zerstören wollen, ist auch ein Echo der hochnäsigen Ansagen aus Berlin.
Die Aufgabe der Zentralmacht wäre es, diese Fliehkräfte einzuhegen und Widersprüche auszubalancieren. Dafür müsste Deutschland, das immer neue Exportrekorde produziert, begreifen, dass sein Erfolg und die Krise des Südens zwei Seiten einer Medaille sind. Deutschland müsste den Exportüberschuss abbauen – mit höheren Löhnen, um mehr Waren aus Spanien oder Italien zu kaufen. Und Berlin müsste große EU-Investitionen in Südeuropa mitfinanzieren, um das Wohlstandsgefälle zu schließen.
Doch was Merkel nach 2010 tat, war stets zu wenig, zu spät, zu egoistisch. Nicht die Spardiktate aus Berlin haben die aktuelle Eurokrise gelöst. Die hat 2012 die EZB beendet, als Draghi unbegrenzte Aufkäufe von Staatsanleihen ankündigte – gegen die Stimme der Deutschen. Die Aussicht, in Deutschland politische Mehrheiten für eine langfristige Politik des Ausgleichs (hierzulande als „Transferunion“ denunziert) liegt derzeit bei null.
Wie wenig Deutschland Führungsmacht in der EU ist, zeigte erst kürzlich Merkels lang erwartete Antwort auf Macrons Ideen für eine EU-Reform. Merkel gab sich Mühe, Macron nicht komplett auflaufen zu lassen. Doch die Botschaft war ernüchternd: Nette Idee, aber wir machen aus Milliarden lieber Millionen. Eigentlich wäre es ja Aufgabe der Zentralmacht, neue Ziele und kühne Pläne für die kriselnde EU zu entwerfen und dafür Bündnispartner zu organisieren. Doch dass eine Merkel-Regierung dies tun könnte, ist schlicht unvorstellbar. Deutschland bremst in der EU, wo es geht, und legt mit leicht gereizter Geste die Hand auf den Geldbeutel. Führung geht anders.
Die USA sind unter Trump auf einem nationalistischen Egotrip. Der Westen zerfällt. Die naheliegende Antwort lautet: Die EU muss schnell enger zusammenwachsen. Niemand müsste daran mehr interessiert sein als Deutschland, das auf eine florierende, starke EU angewiesen ist. Und mit dem Brexit wird Berlin dort noch einflussreicher werden.
Doch Deutschlands Botschaft klingt immer gleich: Bloß keine grundlegende Änderung. Nie war es nötiger, dass Berlin als weitblickende Zentralmacht im Herzen der EU agiert. Die Unfähigkeit, diese Rolle zu spielen, war auch selten größer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen