editorial: Von deutschen Bildungssorgen können andere nur träumen
Fast alle Bundesländer haben ihn bereits hinter sich: den Start ins neue Schuljahr. Seither streitet Deutschland darüber, was „Regelunterricht unter Pandemiebedingungen“ eigentlich heißt und wie er am besten funktioniert. Müssen die Schüler:innen auch im Unterricht Masken tragen, wie es nach Nordrhein-Westfalen nun auch Bayern für notwendig hält? Darf man an Kitas und Grundschulen wirklich auf Abstandsregeln verzichten, weil Kinder bis zu einem gewissen Alter möglicherweise weniger ansteckend sind als Acht- oder Elftklässler:innen? Und was ist Plan B für die kalte Jahreszeit, wenn Klassenzimmer kaum mehr durchlüftet werden können und die halbe Klasse Symptome einer Grippe – oder doch Covid-19 – zeigt? Präventives „Distanzlernen“?
Diese und weitere Fragen sind spätestens ab heute auch außerhalb Deutschlands bedeutsam. Denn am oder kurz nach dem 1. September startet in vielen Ländern weltweit das Schuljahr. Viele Regierungen zögern jedoch mit einer Rückkehr zum normalen Schulalltag – niemand möchte die Fehler Israels oder Australiens wiederholen. Dort wurden die Kinder zu früh wieder zusammen in die Schulen gesteckt, die anschließende Coronawelle dürfte wohl auch darauf zurückzuführen sein. Großbritannien und Spanien haben sich erst wenige Tage vor dem Schulstart überhaupt auf eine klare Linie verständigen können, und im zentralistischen Frankreich müssen die Schulen plötzlich eigenverantwortlich Entscheidungen treffen.
Vermutlich liegt man nicht falsch mit der Annahme, dass nicht wenige Bildungsminister:innen auf der Welt gerne die Sorgen der Deutschen hätten. Vor allem in den Ländern des Globalen Südens stellt sich weniger die Frage, wie der Unterricht startet, sondern ob er überhaupt stattfindet. Bleiben die Schulen geschlossen, fällt für Millionen Schüler:innen der Unterricht aus. Weil es keine stabile Internetverbindung gibt, weil die Familien keine oder nicht genügend Computer oder Smartphones haben. Oder weil die existenziellen Sorgen in den Familien so groß sind, dass Sprösslinge im Schulalter zum Arbeiten geschickt werden. Ein Drittel aller Schulkinder weltweit, vermeldete Unicef vergangene Woche, blieb im Lockdown von Bildung ausgeschlossen: mehr als 463 Millionen Kinder und Jugendliche. Eine Zahl, die uns alle angeht.
Die taz widmet deshalb dem globalen Schulstart in der heutigen Ausgabe vier Sonderseiten. Unsere Korrespondent:innen berichten, welche Folgen Corona für Schüler:innen in Uganda und Brasilien hat, wie in den USA Rebublikaner und Demokraten über Schulöffnungen streiten, wie strikt Peking über Hygieneregeln an chinesischen Schulen wacht. Der Blick ins Ausland bietet auch ungewohnte Perspektiven auf die hierzulande eher kritisch bewertete Digitalisierung an Schulen. Animierte Elefanten in Lernvideos begeistern halb Indien. Und in den Niederlanden, wo die Bürger:innen traditionell sehr digitalaffin sind, trüben die Corona-Erfahrungen die Technikeuphorie an den Schulen.
Von welcher Seite – der technischen, politischen oder sozialen – man es auch betrachtet: Das neue Schuljahr droht die Zahl der Bildungsverlierer:innen noch weiter ansteigen zu lassen. Weltweit. Aber auch in Deutschland.
Ralf Pauli
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