die wahrheit: Mädchen und Ministranten
Wenn man mir eines nicht vorwerfen kann, dann sicher, dass ich den Aussagen der katholischen Kirche ohne Umschweife zustimmen würde. Nun aber...
Wenn man mir eines nicht vorwerfen kann, dann sicher, dass ich den Aussagen der katholischen Kirche ohne Umschweife zustimmen würde. Nun aber tu ich es. Auslöser ist eine Meldung von den Philippinen. Die dortige Erzdiözese behauptet zusammengefasst Folgendes: vom Weibe getragene Spaghetti-Träger und Miniröcke lenken vom Beten ab. Und ich muss sagen: das stimmt. Ich weiß es nämlich aus eigener, leidvoller Erfahrung.
Obwohl die Zeit, von der ich nun singen will, schon ein Weilchen vergangen ist. Damals nämlich war ich noch viel jünger und Ministrant, wie man bei uns im Süden sagt. Das sind die, die während des Gottesdienstes über ihre Kutten stolpern oder mit gelangweilt verdrehten Augäpfeln den Cannabis- vulgo Weihrauchkübel - schwenken. Gibt es den überhaupt noch? Ich, zu meiner Zeit, war jedenfalls immer erstaunt, dass mir während der Andacht so schummerig wurde. Ich dachte immer, es sei das Wachsen beziehungsweise es seien die Mädchen in der ersten Bank. Damals wusste ich noch nicht, dass der Fachausdruck dafür "stoned" heißt. Wie auch immer, das war ganz schön.
Speziell die Maiandachten waren meins. Die fanden, wie der Name schon sagt, im Mai statt. Das im Licht der späten Sonne dämmrige Kirchlein an einem samt warmen Vorsommerabend. Darin die blödsinnigen Gören in der ersten Bank. Ständig giggelnd und immer alle gemeinsam aufs Klo! Eigentlich alberne und unwürdige Wesen. Aber es waren Mädchen! Und sie hatten diese teuflisch luftigen Röcke an und unendlich viele seidig wehende Haare und waren zum Anbeißen braun gebrannt und für mich so unerreichbar, wie der Mond Ich war ein Nichts. Ein - im Angesicht der spöttisch hinter den seidigen Wimpern glitzernden Äuglein - idiotisch stammelndes Nichts. Damals begann ich zu ahnen, welche Macht Frauen über uns haben. Und ich begann zu verstehen, wie fasziniert Frauen von Männern in Uniform oder eben in Kutten sind.
Aber dann: mein Auftritt. Woodstock! Ich - nichts als eitel Kerzenständer und stolz flatternde Kutte. Alle Augen auf mich! Taraaaaaa! Orgelintro: "Maria mach den Mantel weit!", oder so ähnlich. Es brauste und toste und waberte um mich herum, und ich war high im Sinne des Wortes. Und - um auf die Bedenken der Kollegen von den Philippinen zurückzukommen - ich betete keine einzige Sekunde. Das muss hier und jetzt gestanden sein. Ich flehte, aber keineswegs zu Marien, sondern zu den albernen Gören in der ersten Bank. Meine Gedanken kreisten um allerlei schemenhafte Konstellationen, die ich mir ausdachte, um ihnen dereinst vielleicht nahe sein zu können. Diese Gedanken hatten definitiv nichts mit dem eigentlichen Anlass "Maiandacht" zu tun.
Stunden später, nachdem der Rausch verflogen war, war mir klar: Das muss ich beichten. Was ich auch tat. Abteilung: unkeusche Gedanken. Bei den Gedanken ist es leider geblieben. Meine Sehnsüchte haben sich nie erfüllt. Die Gören von der ersten Bank sind mir niemals nähergekommen, als es die Tiefe des Altarvorplatzes gestattete. Aber sind nicht die Träume, die sich nicht erfüllen, genau jene, die uns in immerwährendem zauberhaftem Lichte erscheinen?
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