die wahrheit: StayFeinds
Internet sei Dank: Der Hass von einst muss uns nicht ewig quälen.
Jörg! Lange hatte ich seinen Namen vergessen, spürte nur noch den stumpfen Schmerz am Arm. Über die vielen Jahre, die seit unserer Schulzeit vergangen waren, hatte er kaum nachgelassen. Eine nässende, juckende, immer wieder aufbrechende Wunde.
Hinter der verfallenen Tankstelle war es, unten im Tal, fast am Bach. Ich war zwölf und Einzelkind. Er war 14, schon zweimal sitzengeblieben und Chef einer Clique von Monstern, die es auf wehrlose, bleichhäutige Sonderlinge wie mich abgesehen hatten: Anita, Bernie, Marco und auch die picklige Elke.
Jörg packte meine schmächtigen Arme und riss sie nach hinten. "Wen haben wir denn da?", fragte er wie durch die verfaulten Zahnkegel pfeifend und legte mir einen langen rostigen Draht um die Handgelenke. Alle anderen gickelten blutlüstern.
Jörg strich sich die roten, fettigen Haare mit den dicken Fingern aus der flachen Stirn und drahtete mich an einen dünnen Baumstamm. "Du kleiner Streber und Klugscheißer! Jetzt kriegst du nen Aufreißer!"
Der Draht schnitt blutig ein, und ich dachte an die Tetanusimpfung, die nicht halb so wehgetan hatte wie sein berüchtigter "Aufreißer", den er mir jetzt mit dem Dosenöffner an den wehrlosen Unterarmen setzte. Wochenlang war ich das Gespött mit meinen Pflastern.
Jörg, fieses altes Miststück! Schleim-Qualle mit Mundgeruch, tumbe fühllose Krake! Jetzt hast du deinen entscheidenden Fehler gemacht. Hättest dich einfach nicht bei StayFriends eintragen sollen. Unternehmensberater ist er jetzt, so, so - ein anderes Wort für Vollidiot.
Das Konfirmationsbildchen von einst hat er auf seine Profilseite gestellt: schweinchenrosa Hemd und dunkelblaues Samt-Sakko. Und heute sieht er aus wie Quentin Tarantino nach der Zahnbehandlung in Polen. Ha, endlich ist der Webfehler des Freundesportals StayFriends mal das Geld für die Gold-Mitgliedschaft wert!
Guck dir das an - Jörgs Hochzeit: Heirat mit einer Presswurst namens Susi. Und zwei Bälger mit den arttypischen Tonnenköpfen haben sie auch. Lebenslange Wohnhaft in Hamburg.
Der arme Jörg, jetzt ist sein Leben vorbei. Sein Geburtsdatum hat er offengelegt, damit ihm alle gratulieren müssen! Handynummer und ultraprivate Mail-Adresse stehen dabei - wie dumm. "Gratuliere Jörg Ernst Paul Sowieso zum Geburtstag!" Ja, seh ich so aus, du Pfeife?
Jörgi kriegt diesmal schöne Geschenke. Und seine Kinder und seine Susi ebenfalls: Schnell von Èzcmes Internetcafé aus ein paar Bestellungen aufgegeben. Ein Treppenlift, extraleise, und für die Kinder Zigaretten und Zimmerhubschrauber.
Und während ich Jörg bei SMS-Flirt und Susi bei Voice-Flirt anmelde, kommt mir eine hübsche weitere Idee, tönt er doch auf den eigenen Websites: "Holla Systems AG neuer Großkunde". Holla, kann ich da nur sagen.
Wie wird der Holla-Geschäftsführer staunen, wenn ihm halbseidene Schweizer Kreditinstitute, die ich mir allesamt ausdenken und mit feinem Briefpapier versehen werde, im Auftrag von Jörg schriftliche Angebote für Millionenkredite unterbreiten! Kredite, die helfen könnten, "das schwer angeschlagene Image" aufzupolieren und der "tiefen Krise" zu entkommen. Seine Lieblingshotels an der Bernstein-, Sandstein- und Kalksteinküste, auch seine Lieblingsgaststätte am Elbufer werden sehr unfreundliche Briefe von ihm kriegen, hat er doch seine schönsten "Erlebnisse" auf StayFriends angelegt: Hochzeit, Kindergeburtstag, Klassentreffen … Bilder, die in ihrer dreisten Hohlwangigkeit für sich sprechen.
Die ganze alte Monsterclique vereint! Alle sitzen sie neben ihm, bei seinem Namenstagsfest in der Trattoria Pinocchio auf Sylt: Anita, die Fettquaste, Bernie, der Schluckspecht, Marco, der Depp, Elke, die blöde Nuss.
Es wird eine schöne Zeit werden. Einen nach dem anderen werde ich sie mir vorknöpfen. Immer neue Wege der Rache werden sich eröffnen. Alles haben sie mir angeboten: Hier sind wir, wir sind eitel, alt und dumm. Komm und köpf uns!
Kein Problem, wird gleich erledigt. Erst aber, jetzt, wo ich eure Daten habe, melde ich mich bei StayFriends endlich ab. Eure Geburtstage werde ich bald vergessen haben.
Nicht vergessen werden euch die Aboabteilungen der vielen Illustrierten, die ich euch probeweise bestelle. Nach zehn Tagen solltet ihr die Aufträge widerrufen, sonst wird euch das teuer zu stehen kommen und sehr lästig werden, in vielerlei Hinsicht: "Arme Kinder", werden die Nachbarn sagen. "Da kommen sie! Der Porno-und-Waffen-Jörg mit seiner Sado-Maso-Susi …"
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin