debatte: Wenn der Messerangriff niemanden interessiert
Ein Deutscher sticht in Hodenhagen auf eine Frau ein. Es folgen keine großen Statements und Betroffenheitsgesten, denn der Täter passt nicht ins Muster. Aber was, wenn das Muster falsch ist?
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Von Nadine Conti
An diesem Wochenende wurde eine junge Frau, 19 Jahre alt, am Bahnhof in Hodenhagen niedergestochen. Nach den ersten Erkenntnissen der Polizei kannten sich Täter und Opfer nicht, der Mann suchte sie offenbar willkürlich aus, stach wieder und wieder auf sie ein, trieb sie vor sich her auf den Bahnsteig, bis sie ins Gleisbett fiel. Er ist – nach Angaben der Polizei – 43 Jahre alt und schon länger auffällig, auch mit Gewaltdelikten, mit hoher Wahrscheinlichkeit psychisch krank.
Das ist die Art von Tat, die jeder normale Mensch beängstigend findet – ein Angriff im öffentlichen Raum, willkürlich, unvorhersehbar. Zwar werden die allermeisten Gewaltopfer von jemandem getötet oder verletzt, den sie kennen, aber diese statistische Erkenntnis führt natürlich zu rein gar nichts. Jeder einzelne von uns glaubt, dass wir uns im sozialen Nahraum auskennen und reagieren können – wie soll man sonst durchs Leben gehen? Das Böse muss zwingend da draußen lauern, im Dunkeln und fremd sein.
Womit wir bei einem interessanten Punkt sind, was diesen Fall im niedersächsischen Hodenhagen angeht. Haben Sie wahrgenommen, dass es hier große Statements und Betroffenheitsgesten gab? Hat sich irgendjemand hingestellt und gesagt: „Das geht so nicht weiter. Unser Land muss sicherer werden. Hier ist mein 5-, 7- oder 10-Punkte-Plan, um das zu erreichen“? Nein? Warum nicht? Weil es „nur“ ein Opfer gab, das glücklicherweise auch überlebt hat? Oder vielleicht, weil der Messerstecher in diesem Fall nicht „importiert“ war, wie es im rechten Jargon heißt, sondern Deutscher? Weil diese Tat nicht in das Muster passt, das man sich zurechtgelegt hat? Dieses Muster, das sagt: Wir können das Problem einfach an der Grenze abweisen oder ins Ausland abschieben und müssen uns nicht weiter damit befassen.
Was ist, wenn das Muster falsch ist? Was ist, wenn sich an den zugewanderten Tätern nur sehr viel früher und schärfer ein tieferliegendes Problem zeigt? Was ist, wenn wir eigentlich ein Problem mit der Behandlung von psychisch Kranken haben?
Im vergangenen Sommer saß ich mit einem Kollegen in der Mittagspause in der Sonne, als sich ein laut vor sich hin schimpfender Mann näherte, eine Art Kung-Fu-Tritt über dem Kopf meines Begleiters vollführte, über einen Parkplatz hinter uns rannte, gegen Autos trat, in einen Supermarkt lief, eine Frau ins Gesicht schlug, schimpfend weiterzog in die nächste Eisdiele, wo er Stühle umwarf und Leute bedrohte bis die Polizei kam.
Die stoppte ihn, redete ein Weilchen auf ihn ein, nahm seine Personalien auf und ließ ihn dann laufen. Auf unsere Frage, ob es noch irgendeine Art von Zeugenaussage von uns bräuchte, schüttelte einer der Polizisten den Kopf. Nein, nicht nötig. Der Mann sei am Morgen schon einmal aufgefallen. Der habe jetzt hier auch noch einen Platzverweis erhalten.
Natürlich ist mir klar, dass man Leute nicht aufgrund von Bagatelldelikten wegsperren kann. Aber in diesem Fall sind zwei Dinge passiert: Niemand der Umstehenden hatte das Gefühl, dass hier irgendetwas für die Sicherheit getan wurde. Und niemand hatte das Gefühl, dass irgendjemand sich ernsthaft bemühte, diesem offensichtlich kranken Menschen zu helfen. Aber wenn dieser Mann jetzt als Nächstes ein Messer gezogen hätte und am Bahnhof jemand niemanden gestochen hätte, wäre er halt wenigstens schon im System gewesen, „polizeibekannt“ eben.
Noch heftiger ist dieses Gefühl der Ohnmacht in den Fällen, in denen psychisch kranke Täter über Monate hinweg ihre Umgebung terrorisieren. An die Öffentlichkeit kommt das meist nur in den spektakulären Fällen: Wenn der Bürgermeister von Harsum in seiner Verzweiflung versucht, an einen Waffenschein zu kommen, weil er sich und seine Familie von einem vermutlich psychisch kranken Mann akut bedroht sieht. Oder wenn der psychisch kranke Vater des Attentäters von Hanau mal wieder Opferfamilien terrorisiert.
Aber jedes Mal, wenn solche Fälle durch die Medien waberten, traf ich auf Leute, die sagten: So einen gab es bei uns im Ort auch. Und jedes Mal folgten die Geschichten der gleichen Dramaturgie: Man musste sehr lange, sehr bange warten, bis dieser Mensch sich selbst oder anderen etwas antat, was schlimm genug ist, um eine Einweisung zu rechtfertigen. Die in den allermeisten Fällen ja aber auch nur eine vorübergehende Lösung ist. Es gibt natürlich viele gute Gründe dafür, warum die Hürden dafür so hoch sind. Die Frage ist allerdings, ob den Betroffenen unterhalb und jenseits dieser Hürde gut genug geholfen wird.
Wenn aber sozialpsychiatrische Dienste so überlastet sind, dass sie sich darauf konzentrieren müssen, das allerschlimmste zu verhindern, gerichtlich bestellte Betreuer selten vor Ort und dann auch noch hilflos sind, spezialisierte Pflegedienste Mangelware und ambulante Therapieplätze genauso – dann könnten einem daran schon ein paar Zweifel kommen.
Egal, mit wem man spricht: Eltern, die Therapieplätze für Kinder und Jugendliche suchen, Sozialarbeiter, die sich um Obdachlose kümmern, Angehörige von Psychiatrie-Erfahrenen – alle klagen über ein hoffnungslos überlastetes System, das eine vernünftige psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung überhaupt nicht mehr zulässt.
Natürlich zeigt sich das am drastischsten bei denen, denen es an stabilisierenden Faktoren fehlt und deren Zugang zur Gesundheitsversorgung eingeschränkt ist. Dazu gehören dann eben auch Geflüchtete, die man ja eher destabilisiert: mit der Unterbringung in Massenunterkünften, ohne Tagesstruktur und soziale Einbindung, in ewig andauernder Ungewissheit durch endlose Verfahren oder Kettenduldungen.
Politisch adressiert wird das Problem kaum. Im Gegenteil, die Ampel-Koalition hat in ihrer Regierungszeit einiges unerledigt gelassen: Von der Finanzierung der Psychotherapeuten-Ausbildung bis zur im Koalitionsvertrag eigentlich angestrebten Finanzierung von Dolmetscherleistungen im Gesundheitssystem.
Und damit ist ein Problem noch gar nicht benannt, das für richtig unangenehme Diskussionen sorgen könnte: Der Frage nämlich, ob die knappen vorhandenen Ressourcen immer so richtig und zielführend eingesetzt werden. Aber da würde man sich ja gleich mit zwei Gruppen anlegen: gut situierten und gebildeten Menschen, die Therapie als Instrument der Selbsterkenntnis und Selbstoptimierung begreifen und Therapeuten, die lieber einen „Burn-on“ behandeln als eine Traumafolgestörung.
Das ist natürlich alles legitim, man kann ja niemanden zu einer Therapie zwingen – auf beiden Seiten nicht. Man könnte allerdings schon einmal fragen, ob da in einem doch immer noch zu großen Teilen öffentlich finanziertem Gesundheitswesen, die richtigen Prioritäten und Anreize gesetzt werden.
Das ist natürlich alles wenig wahlkampftauglich, man bräuchte Studien und Förderprogramme, mehr Geld in diesem unübersichtlichen Sektor rund um die psychosoziale Betreuung, das macht sich alles nicht so gut als 10-Punkte-Plan, vermute ich. Da hofft man vielleicht doch lieber, dass es beim nächsten Mal wieder ein Geflüchteter ist, dann kann man über Grenzen reden.
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