Zwischenbilanz AfD im Bundestag: Was machen die hier?
Seit sechs Monaten ist die AfD im Bundestag. Populisten, Nationalkonservative und Rechtsradikale verändern das Parlament – und umgekehrt.
„Ich halte es für wichtig, dass wir diese EU-Verordnung diskutieren“, ruft ein AfD-Abgeordneter vom Redepult in den Saal. „Ich denke, das sind wir den Menschen im Land schuldig.“
Die AfD hat aber keine Debatte im Plenum beantragt, nur eine Abstimmung. Sie hat den Vertragsentwurf auch nicht im Umweltausschuss thematisiert. Sie hat nicht darauf gedrängt, überhaupt irgendwo darüber zu verhandeln. Seit Monaten nicht.
„Ihr seid unfähig!“, ruft ein Unionsabgeordneter. „Sie wollen den Verbrennungsmotor abschaffen!“, brüllt jemand aus der AfD zurück: „Schämen Sie sich!“ Wolfgang Schäuble, der Bundestagspräsident, mahnt mit seiner Glocke zur Ruhe. Der Antrag wird abgelehnt.
Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch greift zum Handy und tippt. „#BT will sich NICHT wehren gegen EU-Verordnung zur faktischen Abschaffung der deutschen Automobilindustrie“, twittert sie. „NUR #AfDimBundestag steht.“
Diese Version der Geschichte wird bei vielen AfD-Anhänger ankommen. Dass die AfD es vergeigt hat, eine inhaltliche Auseinandersetzung im Plenum zu erzwingen, erfahren sie nicht. Allein von Storch hat über 36.000 Follower auf Twitter, ihre Facebook-Seite haben fast 100.000 Menschen abonniert. Wer dagegen schaut sich schon Parlamentsdebatten auf Phoenix an?
Dieser Text wurde für den Deutschen Reporterpreis 2019 nominiert. Sechs weitere Beiträge, die in der taz erschienen sind, stehen ebenfalls auf der Liste der Nominierten. Hier sind sie alle nachzulesen. Die Entscheidung über die besten Texte fällt am 3. Dezember.
Vier Abgeordnete, sechs Monate
Vor einem halben Jahr nahmen 92 Abgeordnete einer neuen Partei im Bundestag Platz. Sie eint der unbedingte Wille, die Republik zu verändern. Etwas Ähnliches passierte zuletzt mit den Grünen, 1983. Die Grünen haben das Land verändert. Sie haben es offener und liberaler gemacht.
Auch die AfD will das Land verändern. In die entgegengesetzte Richtung. Die AfD-Kandidaten wurden im Wahlkampf nicht müde zu zeigen, dass es ihnen um nichts Geringeres als eine andere Gesellschaft geht. Und der Weg zu dieser führt für sie auch über das Parlament. Aber folgt nach der Kritik am System nun konkrete Sachpolitik? Geht es den Neuen überhaupt darum?
Auf der Suche nach einer Antwort haben wir vier AfD-Abgeordnete begleitet, sechs Monate lang. Wir haben Politiker getroffen, deren Partei auf kritische Berichte schnell mit den Begriffen Lügenpresse und Zensur antwortet. Trotzdem ließen die vier sich beobachten, von der taz befragen, in ihre Wahlkreise begleiten. Immer wieder kreisten wir dabei um die Frage: Wer verändert wen mehr – die AfD den Bundestag oder der Bundestag die AfD?
Am 24. Oktober versammeln die Abgeordneten des 19. Bundestags sich das erste Mal. Die Zusammensetzung des Parlaments ist unübersichtlicher geworden. Da ist die FDP, die wieder eingezogen ist. Da sind Frauke Petry und Mario Mieruch, nach ihrem Austritt aus der AfD nun fraktionslos. Und da ist jetzt die AfD, im Halbkreis des Plenarsaals ganz rechts außen, gleich neben der Regierungsbank.
In der dritten Reihe sitzt Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, 46, Netzwerkerin und Politikaktivistin seit mehr als zwei Jahrzehnten, vor allem für eine reaktionäre Familienpolitik. Sie ist Vizechefin der Fraktion. Als sie im Plenarsaal ankommt, macht sie ein Selfie.
Stephan Brandner, 51, ist aus dem Thüringer Landtag für seine Ordnungsrufe bekannt. Er ist besorgt, dass ihn im Bundestag niemand hören wird. Er ist der Justiziar der Fraktion, in ein paar Wochen wird die AfD ihn als Vorsitzenden des Rechtsausschusses nominieren. Stephan Brandner sitzt weit hinten.
Leif-Erik Holm, 47 Jahre alt, ehemals AfD-Chef im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, hat als Fraktionsvize eigentlich einen Platz vorn in der vierten Reihe. Da hat sich aber ein anderer Abgeordneter hingesetzt. Deshalb sitzt Holm in diesem historischen Moment ganz hinten.
In der zehnten Reihe sitzt Jan Nolte, damals 28 Jahre alt, Oberbootsmann bei der Bundeswehr, Vorsitzender der Jungen Alternative in Hessen. Er wird meistens hier hinten sitzen, allein, dicht bei der FDP-Fraktion.
Die Fraktion Bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 holte die AfD 12,6 Prozent der Stimmen. Damit sitzt erstmals seit 1961 eine Partei rechts von der Union im Bundestag. Nach zwei Austritten gehören noch 92 Abgeordnete der AfD-Fraktion an. Sie ist die größte Oppositionspartei.
Das Netzwerk Jedem Abgeordneten stehen über 20.000 Euro für persönliche Mitarbeiter zu, hinzu kommen etwa 150 Stellen in der Fraktion. Insgesamt ergibt das mehrere hundert Arbeitsplätze – ein großer Stellenmarkt für rechtes Personal. Die taz hat in den vergangenen Monaten die Biografien von fast 350 AfD-Mitarbeitern recherchiert. Und festgestellt: Die Fraktion wird zum Scharnier zwischen extremer Rechter und der bürgerlichen Mitte. Alle bisher erschienenen Texte und die interaktive Dokumentation zu dieser Recherche lesen Sie unter: taz.de/netzwerkafd
Die erste Sitzung der Legislaturperiode leitet der FDP-Politiker Hermann Otto Solms als Alterspräsident. Solms hat diese Aufgabe einem Beschluss des alten Bundestags zu verdanken: Alterspräsident ist jetzt nicht mehr der älteste Parlamentarier, sondern der mit den meisten Dienstjahren im Parlament. Sonst würde hier jemand von der AfD sitzen.
Für die AfD ist das eine Steilvorlage für die erste Rede. Das Wort hat Bernd Baumann, Parlamentarischer Geschäftsführer: „In 150 Jahren Parlamentsgeschichte blieb die Regel des Alterspräsidenten unangetastet“, sagt er. Und fährt fort: „Unangetastet? Es gab eine Ausnahme: 1933 hat Hermann Göring die Regel gebrochen, weil er politische Gegner ausgrenzen wollte, damals Clara Zetkin.“ Baumann setzt die AfD mit den Opfern des NS-Regimes gleich.
Wumms, das ist billig, aber sitzt. Die 92 Abgeordneten der AfD klatschen. Ihre Fraktionsvorsitzenden, Alice Weidel und Alexander Gauland, lächeln zufrieden.
Eine geschickt formulierte Provokation
Was Baumann sagt, stimmt aber nicht. 1933 saß Clara Zetkin gar nicht mehr im Reichstag. Das hätte man ihm entgegnen können. Hat aber keiner schnell genug bemerkt.
Ende November steht Jan Nolte, der Berufssoldat, im Plenarsaal und hält sich am Redepult fest, er lässt nur selten los. Seine Rede liest er ab.
Es sind die Wochen mit einer geschäftsführenden Regierung, ohne Ausschüsse, das Plenum verwaltet nur das Nötigste, gerade geht es um die Bundeswehreinsätze, die verlängert werden müssen.
Nolte spricht über die Operation „Sea Guardian“, den Einsatz auf dem Mittelmeer. Davon, dass Schleusernetzwerke bekämpft gehören. Dass aufgelesene Flüchtlingsboote zurück nach Afrika gebracht werden müssen. Dann kommt der Satz, auf den es ihm ankommt. Es sei ein Skandal, „dass die Einsatzrealität unsere Bundeswehr zum Schlepper macht“.
Eine Provokation, die so geschickt formuliert ist, dass sie auch Zustimmung bei jenen finden kann, die nicht das Kernklientel der AfD sind. Die nachfolgenden Redner kommen jedenfalls nicht daran vorbei.
Zum ersten Treffen mit der taz in einem Café im Regierungsviertel kommt Nolte im cremefarbenen Strickpulli. Nolte ist Konvertit, russisch-orthodox, seiner Frau zuliebe. Über die Abgeordneten der anderen Parteien sagt er: „Ich glaube, wirklich viele bei der CDU und bei der SPD sagen etwas, weil es deren Job ist.“ Und er fügt hinzu: „Wir sagen das, wovon wir wirklich überzeugt sind.“
Die Abgeordneten der anderen Fraktionen seien verlogen, abgehoben, faul. Dieses Bild zeichnen AfD-Politiker immer wieder. Ihr Beweis: die Präsenz im Plenum. Deshalb treten sie anfangs dort fast immer vollständig an.
Die Hauptarbeit des Bundestags findet aber in den Fraktionen und in den Ausschüssen statt, die oft parallel zum Plenum tagen. Nach und nach wird das auch den AfDlern klar. Ihre Präsenz im Plenum bröckelt.
In den ersten Wochen im Bundestag kann man Beatrix von Storch oft dabei beobachten, wie sie auf andere einredet. Auf die Parlamentarischen Geschäftsführer, die Fraktionschefs und anderen Vizes. Da spricht eine, die seit mehr als 20 Jahren Politik macht. Die in Brüssel und Straßburg parlamentarische Erfahrung gesammelt hat.
Beatrix von Storch bittet gern früh zum Gespräch. Es ist 8.30 Uhr, sie sitzt hinter ihrem Schreibtisch. Über das Sofa in ihrem Bundestagsbüro hat sie eine rotgemusterten Decke aus Südamerika gelegt, auf dem Schreibtisch stehen Fotos aus Chile. Ihr Mann sei dort aufgewachsen, erzählt sie. Persönlicher wird es in den sechs Monaten nicht.
Manchmal merkt man von Storch an, wie schwer sie es ertragen kann, dass viele AfD-Abgeordnete weniger professionell und weniger effizient sind als sie. Dass der Aufbau der Fraktion nur langsam vonstatten geht. Und dann sind da die vielen Pannen. Als der Parlamentarische Geschäftsführer versehentlich für den Familiennachzug stimmt. Oder die Pressestelle zwei Erklärungen zum Soli verschickt – einmal dafür und einmal dagegen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Spricht man von Storch auf die vielen parlamentarischen Anfänger an, blockt sie ab. „Klar, hätten Sie gerne, dass wir uns zerlegen, aber das machen wir nicht“, antwortet sie dann. Von Storch ist jetzt da, wo sie immer hin wollte: im Bundestag, dem Zentrum der parlamentarischen Demokratie. Sie sagt: „Und das machen wir hier gut.“
In der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten ist es Zeit für einen typischen AfD-Gag. Leif-Erik Holm postet ein Bild auf Twitter, darauf ein Weihnachtsmann, der zwei Kinder fragt, was sie sich denn wünschen. „Na, unser Land zurück!“
Als Holm in den Bundestag einzog, gehörte er zu den bekannteren Gesichtern. Früher war er Radiomoderator, später von Storchs Büroleiter. Schließlich wurde er Oppositionsführer im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Aber wie fällt man jetzt unter 92 Leuten auf, wenn die Brandreden, die für Furore sorgen, andere halten?
Holm schreibt im Bundestag Anfrage um Anfrage an die Bundesregierung. Er lässt sich in den Wirtschafts- und Verkehrsausschuss wählen. Fragt man andere nach einem Attribut für ihn, sagen viele AfDler, aber auch Einzelne aus anderen Fraktionen: „nett“.
Doch der nette Herr Holm hat Hilfe. Sein Büroleiter war früher einmal Redakteur der neurechten Wochenzeitung Junge Freiheit und hat schon in Mecklenburg die Pressearbeit der Landtagsfraktion gemacht. Seine Aufgabe ist es, Leif-Erik Holm zu inszenieren. In den ersten Wochen passiert das vor allem auf Twitter. Leif-Erik Holm twittert zum Beispiel: „Überstunden-Alarm bei der Bundespolizei in Mecklenburg-Vorpommern! Artikel über meine Anfrage an die Bundesregierung. Kaum ist die #AfD im Bundestag, schon decken wir erste Skandale auf.“
Was er nicht schreibt: Die Überbelastung der Bundespolizei ist seit Jahren Thema der großen Parteien, die Anfrage liefert neue Zahlen, deckt aber nichts auf.
Die Social-Media-Strategie der Fraktion hat einen interessanten Effekt. Twittert die AfD-Fraktion einen Link zu einem öffentlich zugänglichen Plenarprotokoll, bedanken sich ihre Anhänger für die „neue Transparenz“. Berichtet ein Abgeordneter auf Facebook von einer Ausschussreise, antworten manche: „Hochachtung!“ Als sei so eine Reise nicht uralte Parlamentspraxis, sondern ein AfD-Verdienst.
Nach einigen Monaten der Beobachtung fragt man sich: Ist dies das eigentliche Ziel der AfD im Bundestag – Stoff für die sozialen Netzwerke zu generieren? Dazu passt im Februar die Ankündigung der AfD-Fraktion, dass sie eine Pressestelle mit 20 Beschäftigen aufbauen will, deren erklärtes Ziel es ist, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen. Und die sie „Newsroom“ nennt.
Mitte Februar, Raum A1 im Bundestag. Stephan Brandner sitzt vor einer orangefarbenen Wand auf einem Tisch, vor ihm Zuhörer in drei langen Stuhlreihen: eine Besuchergruppe aus Erfurt, Brandners Wahlkreis. Kurz zuvor haben sie von der Besuchertribüne die Debatte im Plenum verfolgt. „Das erinnert mich an durchgestyltes Theater“, fasst einer jetzt seine Eindrücke zusammen. „Die verarschen uns doch“, sagt ein anderer.
Brandner erzählt der Besuchergruppe nun von der Debatte am Vorabend, die AfD hatte gefordert, die Bundesregierung solle zwei satirische Texte des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel missbilligen. Yücel war kurz zuvor aus der Haft in der Türkei entlassen worden. „Da flogen die Fetzen, das war eine Sternstunde des Parlaments“, sagt Brandner. Geschlossen hatten die anderen Fraktionen den AfD-Antrag in scharfen Reden als das kritisiert, was er war: ein Angriff auf die Pressefreiheit.
Zwischenrufe. 23 Stück
Und Brandners Beitrag zu dieser Sternstunde des Parlaments? Zwischenrufe.
„Ihre Rede ist erbärmlich, Herr Kubicki! Intellektuell erbärmlich!“
„Das ist Unsinn!“
Insgesamt 23 Stück.
Bei seiner Besuchergruppe kokettiert er mit seiner Pöbelei: „Da hat der Kollege einen Ordnungsruf kassiert, aber der erste sollte doch an mich gehen.“
Brandner wollte eigentlich nicht nach Berlin. In Erfurt war er wer. Der Landtag dort ist klein, Brandner war Vizechef der Fraktion und Vorsitzender des Ausschusses für Migration und Justiz. Einen Namen hat er sich durch lautstarke Äußerungen gemacht. Dafür hat er 32 Ordnungsrufe kassiert, so viele wie kein anderer. Aber nachdem der Thüringer Fraktionschef Björn Höcke entschieden hatte, in Erfurt zu bleiben, fiel die Wahl auf Brandner. Einer musste ja gehen.
„Anfangs habe ich gedacht: 92 Abgeordnete, wenn du da was bewegen willst, musst du in die Top Ten“, sagt er. Also kandidierte er für den Fraktionsvorstand, zweimal. Und scheiterte zweimal.
Die Zeit der Besuchergruppe ist fast um, da fragt einer, wie es denn mit der „Merkel muss weg“-Sache aussehe. Er meint den Merkel-Untersuchungsausschuss, dessen Einsetzung die AfD-Spitze im Wahlkampf versprochen hatte. „Das ist aufwendiger, als ich dachte“, sagt Brandner. „Wir sind noch in der Vorbereitung.“ Und die 25 Prozent der Stimmen, die für die Einsetzung eines Untersuchungsausschuss nötig sind, bekomme die AfD ohnehin nicht.
Eigentlich war das also ein leeres Versprechen. Die Besucher stört das nicht.
Anfang Februar findet in einer Brauerei in Bad Homburg der Neujahrsempfang der Jungen Alternative statt, der Jugendorganisation der AfD. Jugend heißt: 20 grauhaarige Männer, 14 jüngere Männer und Frauen. Einige fehlen, es gab zuvor Streit um Posten.
Jan Nolte hält eine Rede über ein Deutschland, das sich langsam verflüchtige. Er streckt sein Kreuz durch und sagt: „Wenn alle von der Fahne gehen, dann lasst uns die Letzten sein.“
Nolte, der im Bundestag zunächst pointiert redete, aber vergleichsweise gemäßigt, klingt inzwischen schärfer. Auf Facebook verteidigt er auch schon mal Pegida, Monate später wird er von einer „verweichlichten Bundeswehr“ sprechen.
Er träumt von einer patriotischen Renaissance. „Man fühlt sich ja schon halb kriminell, wenn man die Deutschlandfahne aufhängt. Ich möchte ganz natürlich, selbstbewusst zu Deutschland stehen.“ Tiefer gehen die Gedanken, die er in den Gesprächen mit der taz teilt, selten. Vielleicht, weil für ihn sein Ziel so einfach scheint. Vielleicht aber auch, weil eine Rebellion, die nur zurück will, tatsächlich einfach ist: Gewagte Gedanken braucht man dafür nicht.
Worüber Nolte selten spricht: über seine Verbindungen zu einschlägigen Burschenschaften, über neurechte Publizisten in seinem Umfeld – und über seine Frau. Sie arbeitet für das neurechte Magazin Compact. Und neuerdings auch als Mitarbeiterin im Bundestag, bei einem anderen AfD-Abgeordneten. Ist das nicht problematisch, die eigene Frau, versorgt mit einem Job in der Fraktion? Sie habe es schwer, andere Sachen zu finden, sagt Nolte. Und außerdem verdiene sie ja im Bundestag nicht so viel. Nolte, der gern vom mangelnden Anstand der anderen Parteien spricht, sieht darin keine Vetternwirtschaft.
„Und jetzt alle: Höckeeeee!“
Am Ende des Abends in Bad Homburg posieren alle Anwesenden für ein Gruppenfoto. Kurz bevor die Fotografin abdrückt, ruft sie: „Und jetzt alle: Höckeeee!“
Stephan Brandner sagt von sich selbst, zwischen ihn und Björn Höcke passe kein Blatt Papier. Brandner baut sich gern breitbeinig auf, wie ein Türsteher. Am 31. Januar hat er aber Zweifel. Seine Fraktion hat ihn für den Vorsitz des Rechtsausschusses vorgeschlagen, die anderen Ausschussmitglieder müssen nun darüber abstimmen.
Dass der AfD mit ihren 92 Abgeordneten drei Ausschussvorsitzende zustehen, stellt niemand infrage. Aber diese drei?
Peter Boehringer, der Verschwörungstheorien anhängt und die Kanzlerin in einer Mail „Merkelnutte“ genannt haben soll, wäre dann Vorsitzender des Finanzausschusses.
Sebastian Münzenmaier ist erstinstanzlich wegen Beihilfe zur schweren Körperverletzung verurteilt, er würde gern den Tourismusausschuss übernehmen.
Und den Rechtsausschuss will Stefan Brandner leiten, der Mann mit der Rekordzahl an Ordnungsrufen.
Viele von der Linkspartei bis zur CSU würden dies lieber vermeiden. Aber was dann? Die AfD könnte sich schon wieder zum Opfer stilisieren – und schlimmstenfalls vor das Bundesverfassungsgericht ziehen und dort Recht bekommen.
Pöbeleien nur auf der großen Bühne
Brandner wird mit 19 Jastimmen, bei 12 Neinstimmen und 12 Enthaltungen gewählt. Auch Münzenmaier und Boehringer kriegen die nötigen Stimmen. Von Mitgliedern des Rechtsausschusses hört man später, dass Brandner die ersten nichtöffentlichen Sitzungen ganz unauffällig leitet. Die Pöbeleien hebt er sich offenbar für die große Bühne auf.
Am 1. März 2018 setzt der neue Bundestag seinen ersten Untersuchungsausschuss ein, er soll den Anschlag am Breitscheidplatz untersuchen. Dem „Amri-Untersuchungsausschuss“, wie er nach dem Täter genannt wird, wird für die AfD Beatrix von Storch angehören.
Fragt man sie, wie sie sich ihre Arbeit im Untersuchungsausschuss vorstelle, sagt sie: „Man sollte sich nicht nur darauf fokussieren, welche Fehler im Klein-Klein gemacht worden sind. Die Aufgabe der Opposition ist es zu klären: Wer trägt eigentlich die Verantwortung?“
Doch Arbeit im Untersuchungsausschuss ist genau das: Klein-Klein. Genaues Studieren von Akten, akribische Recherche, detaillierte Vor- und Nachbereitung von Befragungen. Aus den Mosaiksteinen ergibt sich dann ein Bild: von Fehlern, politischer Verantwortung und möglichen Konsequenzen.
Für die AfD steht aber ohnehin fest, wer letztlich die politische Verantwortung trägt: die Kanzlerin, die im Sommer 2015 die Grenzen nicht schloss. So will die AfD den „Untersuchungsausschuss Merkel“, den sie im Wahlkampf versprochen hatte, durch die Hintertür umsetzen.
Wird sich die AfD auf den Untersuchungsausschuss einlassen? Die Fraktion hat bislang noch nicht einmal einen Mitarbeiter dafür eingestellt, aus dem Büro von Storch ist einer dabei. Zum Vergleich: Bei Martina Renner, die als Obfrau der Linkspartei im Amri-Untersuchungsausschuss sitzt, sind vier erfahrene MitarbeiterInnen an der Vorbereitung beteiligt.
In SMS schreibt Stephan Brandner gern „iO“, in Ordnung – „okay“ mag er nicht. Den „Newsroom“ der Fraktion würde er auch lieber Nachrichtenzentrale nennen. Und er will Deutsch als Landessprache im Grundgesetz verankern.
Ein Freitagmorgen Anfang März, Brandner steht am Redepult des Bundestags und zitiert Norbert Lammert von der CDU: „Die Landessprache ist Deutsch, Punkt.“ Brandner genießt den Moment, „Meine Damen und Herren, dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen.“
Er fügt natürlich trotzdem etwas hinzu, schließlich hat er seine Herzensangelegenheit nun in einen Antrag gegossen. Brandner erinnert daran, dass die CDU schon 2008 auf ihrem Bundesparteitag beschlossen habe, genau das umzusetzen.
Aus Sicht der AfD hat der Antrag einen schönen Effekt: Er bringt die CDU in die Bredouille. Landesprache, Doppelpass, Christenverfolgung: Immer wieder setzt die AfD CDU-Themen auf die Tagesordnung und beobachtet dann, welche Kapriolen diese schlägt, um eine Nichtzustimmung zu begründen. Bislang ist die Union da klar: Sie stimmt AfD-Anträgen nicht zu. In manchen Landtagen lässt sich aber beobachten, dass die klare Linie bröckelt.
Holm – der Kümmerer
Die Frage, wie man im konkreten Fall abstimmt, ist aber auch nur die eine. Die andere ist: Wie verhalten sich die anderen Parteien inhaltlich zu den Forderungen der AfD? Brandner ist sich in seiner Prognose sicher: „In Thüringen übernimmt die CDU oft das, was die AfD verlangt hat. Und genauso wird das im Bund auch funktionieren.“
Mitte März im Büro von Leif-Erik Holm. Über dem Schreibtisch seiner Sekretärin hängt ein Zitat, ausgedruckt in Schwarz-Weiß, DIN-A4-groß. Es handelt von Würde und Widerstand, es ist von Sophie Scholl.
Holms Büroleiter ermuntert die Sekretärin, ihre Geschichte zu erzählen. Sie geht so: Eine Frau aus Ostdeutschland arbeitet jahrzehntelang für verschiedene Abgeordnete der CDU. Dann kommen der Sommer 2015 und die vielen Flüchtlinge. Sie weiß noch genau, wie sie bei einer CDU-Mitarbeiterfeier den Spaß der anderen nicht verstand und stattdessen zu einer AfD-Versammlung ging. Dort traf sie Beatrix von Storch, Leif-Erik Holm – und fand ihre neue politische Heimat.
Die Erfahrung solcher Mitarbeiter ist ein Geschenk für Holm. Während andere Abgeordnete im Oktober bei null beginnen, meldet sein Team ihn bei Patenschaftsprojekten an und lädt Schulklassen in den Bundestag ein. Holm möchte, dass seine Wähler wissen: Er ist ihr Mann in Berlin.
Er kümmert sich um Themen mit lokalem Bezug, scannt die Nachrichten und schickt seine Statements dazu so pünktlich an die Regionalzeitungen, dass er ständig zitiert wird. Er darf den Koalitionsvertrag kommentieren, Lokalpolitik und Wirtschaftsfragen.
14. März, die Regierung steht. Es ist wieder eine Große Koalition, wieder Angela Merkel, zum vierten Mal wird sie zur Kanzlerin gewählt. Den Eid nimmt ihr der Mann ab, der seit 45 Jahren im Bundestag sitzt, Wolfgang Schäuble.
Beatrix von Storch twittert nur ein Wort: „#Meineid“. Ein anderer AfD-Abgeordneter postet ein Foto seines Stimmzettels, dabei ist die Wahl geheim. Auf der Zuschauertribüne des Plenarsaals hält ein AfD-Referent ein Transparent hoch, darauf steht: „Merkel muss weg“.
Tweet von der Toilette
Wenn man sich fragt: Wer hat sich mehr verändert, die AfD oder der Bundestag? – dann lässt sich die Antwort vielleicht ganz gut mit diesem Termin, der Wahl der Bundeskanzlerin, beschreiben. Wolfgang Schäuble beschäftigt sich nun mit dem Stimmzettel, der Ältestenrat des Bundestags mit dem Transparent. Eigentlich soll der Ältestenrat den reibungslosen Ablauf im Bundestag organisieren. Nun kommt er immer häufiger zusammen, um Streit zu schlichten. Mitglieder berichten, es vergehe kaum eine Sitzung, wo nicht ein Eklat mit der AfD zur Sprache käme.
Und dann gibt es noch einen Tweet von diesem Tag. Stephan Brandner postet den Stimmzettel. Neben der Toilette. Wie respektvoll kann der Vorsitzender des Rechtsausschusses mit den demokratischen Institutionen umgehen, wenn ihm zu der Regierungschefin nur ein Klo-Witz einfällt?
Ein zähes halbes Jahr geht zu Ende. Die Regierungsbildung ist gerade erst abgeschlossen, und auch die AfD hat noch keinen funktionierenden Apparat. Vielen ihrer Abgeordneten fehlen Referenten, auf einen Pressesprecher konnten sie sich erst vor wenigen Wochen einigen, der Fraktionsgeschäftsführer musste schon wieder gehen. In der Fraktion machen viele noch immer, was sie wollen.
Nie lacht nur einer, immer viele
Nach außen aber demonstriert die AfD maximale Geschlossenheit. Im Plenum lacht nicht einer, sondern viele. Es klatscht nicht einer, sondern viele. Es herrscht Wagenburgmentalität.
Sieben Gesetzesvorhaben hat die AfD bislang in den Bundestag eingebracht, 18 Anträge gestellt, 168 Kleine Anfragen formuliert, 277 Einzelanfragen gestellt. Die Fraktion, die die anderen gern als faul beschimpft, ist damit Mittelmaß. Die Linkspartei hat deutlich mehr Kleine Anfragen, die Grünen mehr Einzelfragen gestellt, bei den Anträgen liegen beide vor der AfD. Diese bemüht sich, inhaltliche Breite zu demonstrieren, landet aber häufig wieder bei ihren Lieblingsthemen: den Geflüchteten und dem Islam.
Im Bundestag hat sich der Ton verschärft, er ist rüder geworden, respektloser. Worte wie „Schuldkult“ und „entartet“ fallen hier jetzt. Auch der Umgang der Abgeordneten miteinander hat sich verändert. Die Grundübereinkunft, inhaltlich zwar hart zu streiten, persönlich aber respektvoll miteinander umzugehen, scheint in Gefahr. Die AfD stellt die Spielregeln grundsätzlich infrage.
Die anderen Fraktionen suchen noch immer nach dem richtigen Umgang mit den Neuen. Sie quälen sich – und sie lernen, auch aus den eigenen Fehlern.
Aber, auch das lässt sich beobachten, die AfD hat die Debatte belebt. Die anderen Fraktionen sind gezwungen, sich anzustrengen. Ihre Argumente zu schärfen, Unterschiede klarer herauszuarbeiten. In den vergangenen sechs Monaten wurden großartige Reden gehalten. Klug, engagiert, mitunter scharf. Allerdings, das war ebenfalls zu beobachten, auch die AfD hat gute Redner in ihren Reihen – auch wenn das, was sie sagen, mitunter furchtbar ist.
Und wie verändert das Parlament die AfD? Sie hat gemerkt, dass die Arbeit im Bundestag es in sich hat. Dass man nicht gleichzeitig im Parlament und im Ausschuss sein kann. Dass ausufernde Fraktionssitzungen nur begrenzt zu etwas führen. Der Wunsch nach Professionalisierung wird größer. Manche in der Fraktion wollen vor allem provozieren, tricksen, vorführen. Andere würden lieber ankommen, mitmischen, auch von anderen Fraktionen Anerkennung bekommen. Manche wollen beides. Stets verhasster Außenseiter zu sein, ist auf Dauer eben auch nicht schön.
Gegen Ende dieser Recherche steht Jan Nolte an einem Apriltag im Plenum und muss zuhören, wie eine Linkspolitikerin seinen Mitarbeiter als Teil eines „rechtsextremen, rassistischen Netzwerkes“ benennt. Nolte greift zum Mikrofon, doch das ist nicht an, er ist nicht dran.
Es geht um Maximilian T. Gegen den ermittelt die Bundesanwaltschaft wegen Terrorverdachts. T. soll der Komplize von Franco A. sein, jenem Bundeswehroffizier, der sich als syrischer Flüchtling ausgegeben hatte und unter dieser Tarnung womöglich Anschläge verüben wollte. T. soll eine Liste mit Zielen erstellt haben, darauf auch Claudia Roth und Heiko Maas. Nolte hat T. trotzdem eingestellt.
Der Verteidigungsausschuss ist ein besonderer. Teile des Verteidigungshaushalts sind streng geheim, es geht um Staatsgeheimnisse. Maximilian T. hat nach einer Sicherheitsüberprüfung nicht einmal einen Hausausweis bekommen. Er darf den Bundestag nicht allein betreten.
Als Nolte im Plenum endlich dran ist, hält er sich am Mikrofon fest. „Ich habe den Sachverhalt eingehend prüfen können.“ Er sei zu dem Schluss gekommen, „dass es ziemlich stark danach aussieht, als sei hier aus politischen Gründen Recht gebeugt worden“.
Wenige Tage zuvor hatte Nolte noch in seinem Büro gesagt: Er sorge sich, dass sich in Deutschland die Mehrheiten so verschieben, dass neue Gruppen gefährliche Ideen ganz demokratisch durchsetzen könnten. Er meinte das nicht als Witz.
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