Zweifel an Giftgasangriff in Syrien: Wie man's dreht und wendet
US-Reporterlegende Seymour Hersh glaubt nicht an einen Sarin-Angriff auf Chan Schaichun. Als Beleg dafür liefert er jedoch nur anonyme Quellen.
Gretchenfrage: Muss man einem preisgekrönten Investigativjournalisten alles abnehmen – auch wenn er keine einzige überprüfbare Quelle vorweisen kann?
Am Wochenende erschien in der Welt am Sonntag auf drei Seiten ein Artikel des US-Journalisten Seymour Hersh. Darin behauptet er, nachweisen zu können, dass bei dem Angriff eines syrischen Flugzeuges auf den Ort Chan Schaichun am 4. April dieses Jahres kein Sarin abgeworfen worden sei. Damit widerspricht er der breiten Auffassung, nach der die syrische Regierung diesen tödlichen, international geächteten Kampfstoff gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat.
Das Problem: Im Text wird keine einzige Quelle beim Namen genannt. Reicht das Wort eines verdienten Reporters aus, dass er sorgfältig gearbeitet hat?
Hersh widerspricht nicht zum ersten Mal. Bereits im Dezember 2013 und im April 2014 erschienen in der London Review of Bookszwei Artikel von Hersh, die sich mit dem Krieg in Syrien und dem Einsatz chemischer Kampfstoffe befassten. Darin widersprach Hersh der These der US-Regierung, das syrische Assad-Regime habe im August 2013 mehrere Vororte von Damaskus mit Giftgas angegriffen und sei für möglicherweise mehr als tausend Tote verantwortlich.
Gegen den Rat der Geheimdienste
2013 hatte US-Präsident Obama noch auf einen Vergeltungsschlag verzichtet, obwohl er Syrien einen Militäreinsatz angedroht hatte, falls Assad Chemiewaffen gegen die Rebellen in Syrien einsetze. Obamas Nachfolger Donald Trump hingegen ließ im April dieses Jahres 59 Marschflugkörper auf einen syrischen Militärflughafen abfeuern, als Reaktion auf die „abscheuliche Tat“ in Chan Schaichun.
Trump habe gegen den Rat seiner Geheimdienste gehandelt, schreibt Hersh in seinem neuen Text. Die seien nicht überzeugt gewesen, dass es in Chan Schaichun einen Sarin-Angriff gegeben habe. Hershs Quelle zufolge habe der Angriff einem Treffen hochrangiger Dschihadisten gegolten, die sich in dem getroffenen Gebäude versammelt hatten. Im Keller des Hauses seien Raketen, Munition und Versorgungsgüter wie Dünger und Desinfektionsmittel gelagert gewesen. Diese seien explodiert und hätten eine ätzende Wolke über die Umgebung wehen lassen.
Damit bringt Hersh eine neue Version der Geschehnisse in Umlauf, es ist mindestens die dritte, die kursiert. Für die These vom Sarin-Angriff sprechen Videos, Fotos und die Berichte vieler Augenzeugen, behandelnder Ärzte sowie von Kareem Shaheen, eines Mitarbeiters des Guardian, der zwei Tage nach dem Angriff Chan Schaichun besuchte. Er fand nur einen leeren Kornspeicher neben der Einschlagstelle der Bombe.
Für die zweite, von Moskau mit falscher Zeitangabe verbreitete These, es sei ein Giftgas-Depot der Rebellen getroffen worden, spricht: nichts.
Gegen Hershs neue Version wiederum spricht einiges. Zunächst, dass er inzwischen überhaupt kein Medium im angloamerikanischen Raum mehr gefunden hat, das seinen Text drucken wollte, selbst die London Review of Books habe ihn „aus politischen Motiven“, so Hersh, abgelehnt. Auch seine vorherigen Texte über Giftgaseinsätze in Syrien und einer über den Tod von Osama bin Laden fanden bei Hershs Arbeitgebern vergangener Jahrzehnte, dem New Yorker und der New York Times, keine Abnehmer. Der Grund: Die Quellenlage sei zu dürftig, denn seine Interviewpartner bleiben stets anonym, einschlägige Dokumente konnte er nicht vorweisen. Dennoch wurden alle Texte auch auf Deutsch verbreitet und tauchten in Leserbrief-Foren immer wieder als Belege für die Verlogenheit der westlichen Syrien-Berichterstattung auf.
Seymour Hersh ist eine mit vielen Preisen ausgezeichnete Reporterlegende. Er deckte 1969 das Massaker im vietnamesischen My Lai auf und berichtete als Erster über die Folterungen irakischer Gefangener im US-Gefängnis Abu Ghraib. Aber die Regeln journalistischer Sorgfalt müssen auch für ihn gelten. Zum Beispiel, dass man Quellen gegencheckt. Und besonders, wenn man den ganz Mächtigen ans Bein pinkelt.
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