Zwang zur Koedukation in Papenburg: Klasse mit Jungs
Seltsam, dass in Zeiten von Safe Spaces Mädchenschulen ein Auslaufmodell sind. Auch im Mariengymnasium Papenburg kommen jetzt die Jungs.
Helene sitzt in einem Café neben der Schule, um davon zu erzählen, sie hat sich Notizen gemacht, um nichts Wesentliches zu vergessen, obwohl sie nicht so wirkt, als würde sie Wesentliches vergessen. Sie hat die Unterschriften gleich in doppelter Hinsicht nicht für sich gesammelt: Weil sie als Zehntklässlerin nicht davon betroffen ist, dass in den künftigen 5. Klassen Jungs dabei sind. Und weil sie für „schüchterne Mädchen“ den Entwicklungsraum erhalten wollte, den sie bislang hatten, und den sie wichtig findet, weil sie glaubt, dass es mehr schüchterne Mädchen als Jungen gibt. Sich selbst zählt sie nicht dazu, kein Wunder: Kürzlich hat sie an der Mathe-Olympiade teilgenommen, davor war sie in der Technik-AG und hat Programmieren gelernt, nebenbei ist sie noch bei People for Future.
Aber die 313 Unterschriften, die zusammengekommen sind, haben nichts genützt, denn bei der Öffnung für die Jungen ging es gar nicht um pädagogische Konzepte – es ging schlicht um Anmeldezahlen. Und die lagen mit 72 für die drei fünften Klassen unter den erforderlichen 75, mit denen man kostendeckend arbeiten und attraktive Kursauswahlen anbieten kann. „Das ist der absolute Kipppunkt“, sagt Thomas Weßler, der Vorsitzende des Stiftungsvorstandes der Schulstiftung im Bistum Osnabrück. Wenn man mit ihm telefoniert, wird schnell klar, dass es hier nicht um eine konzeptionelle Entscheidung geht, um ein Bekenntnis für oder gegen das Prinzip Mädchenschule. „An Monoeduaktion ist an und für sich nichts Verkehrtes, solange sie nachgefragt wird“, sagt Weßler. Und dass dem Mädchengymnasium in Papenburg – dem einzigen der Schulstiftung – ein paar demographisch schwierige Jahrgänge das Genick gebrochen haben.
Die Schule hatte sich ein einjähriges Moratorium erbeten, „superschöne Dinge gemacht“, so Weßler, und gezeigt, „was für eine gute Schulgemeinschaft sie hat“ – geholfen hat es nicht. Die Enttäuschung darüber hat Weßler abbekommen, „schön war es nicht“, sagt er, und dass es andererseits kein gutes Zeichen wäre, wenn die Schule nicht gekämpft hätte.
„Es hat nicht gereicht“, sagt Michael Bloemer, der Schulleiter in seinem Büro. Das Mariengymnasium hat die betoneckige Nicht-Schönheit aller Schulen, und dass es eine kirchliche ist, ist hier vor allem an einem sehr kleinen Ansteckkreuz an Bloemers Sakko zu sehen. „Im ersten Moment war es schwer, auch für die Kollegen, die die Mädchenbildung verinnerlicht haben“, sagt Bloemer. „Wir haben uns geschüttelt und machen jetzt das Beste daraus.“ Aber viel, so klingt es, ist gerade gar nicht zu tun. Neue pädagogische Konzepte schreibt man im Mariengymnasium nicht. „Es ist ja nicht die Quadratur des Kreises, wir nehmen Jungs auf“, sagt Bloemer. Zunächst wird man sie ganz normal mitlaufen lassen.
Wieso eigentlich kein Role Model?
Etwas Jungenerfahrung hat man ohnehin, weil das Mariengymnasium in der Oberstufe mit dem örtlichen Gymnasium gemeinsame Kurse anbietet, wenn man sie aus eigener Kraft nicht stemmen kann.
Es ist offenkundig, dass Michael Bloemer zu denen gehört, die die Mädchenbildung verinnerlicht haben. Er zieht einen Flyer hervor, den die Schule im Moratoriumsjahr bei einer Werbeagentur beauftragt hat, auch das hat nicht gereicht. „Es ist ärgerlich“, sagt er, „es gibt keine inhaltlichen Gründe, das bringt einen zum Nachdenken.“ Und zugleich stellt er fest, dass die Mädchenschule ganz generell stirbt, jenseits des Mariengymnasiums, das sei eine deutlich wahrnehmbare Tendenz.
Warum eigentlich? Warum ist die Mädchenschule in Zeiten, in denen „safe space“ ein weitestgehend anerkanntes Konzept ist, so komplett Auslaufmodell und so gar nicht Role Model? Weil sie mit der katholischen Kirche verbunden ist, die nicht gerade im Aufwind ist?
Michael Bloemer, Schulleiter
„Eigentlich“, sagt Thomas Weßler von der Schulstiftung, „haben die katholischen Schulen kein Nachfrageproblem.“ Es scheint also doch am Prinzip Monoedukation zu liegen. Diejenigen, die es erhalten wollen, vermeiden alle Begriffe, die nach Schutzbedürftigkeit oder Rückzug klingen. „Schutzraum?“, sagt Schuldirektor Bloemer, wenn man ihn danach fragt. „Ich weiß nicht, ob das der richtige Begriff ist. Eher ein Ort, wo alle Kompetenzen, die Mädchen besitzen, entwickelt werden.“ Empowerment hätte die Werbeagentur vielleicht auf den neuen Flyer schreiben sollen, aber vielleicht wäre das auch kontraproduktiv gewesen.
Monoedukation gerade kein Thema
Für die Forschung zu geschlechtergerechtem Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften, und das ist bemerkenswert, ist Monoedukation zur Zeit kein Thema. „Studien hängen von Auftraggebern ab, und das Thema ist nicht mehr so in“, sagt Andrea Blunck, die eine Professur für Mathematik und Gender an der Uni Hamburg hat. „So etwas würde es heute nicht mehr geben“, sagt sie über ihre eigene Stelle, und es ist auffallend, dass die Mädchenschulen und die Genderprofessuren zu MINT-Fächern zur gleichen Zeit im Abwind sind. Jungen ließen sich in Mathematik eher auf Risiken bei der Suche nach Lösungen ein, Mädchen folgten eher Lösungsschemata und hielten sich bei dem, was man „fragend-entwickelndes Lehrgespräch“ nennt, eher zurück. Ebenso wisse man, dass Jungen häufiger aufgerufen und häufiger gelobt würden.
Folgt aus all dem, dass man eine Mädchenschule braucht, um darauf Rücksicht zu nehmen?
Genderstereotype greifen ab der Pubertät
Immerhin kommen überproportional viele der Frauen, die Mathematik oder Naturwissenschaften studieren, von Mädchenschulen. Die mathematischen Fähigkeiten unterscheiden sich bei den Geschlechtern erst mit etwa zehn Jahren, und das ist für die Forschung Beleg dafür, dass dafür Genderstereotype verantwortlich sind, die ab der Pubertät greifen. Dann, und das nur als Fußnote, verschlechtert sich auch die Lesekompetenz der Jungen, die inzwischen ingesamt schlechtere Bildungsabschlüsse machen.
„Besonders mit Blick auf die Grundschulen müsste man heute eher eine Förderung der Jungen durch Monoedukation fordern“, sagt Thomas Weßler. Aber die überwiegende Mehrheit der Pädagog:innen fordert ohnehin nicht Monoedukation, sondern eine sogenannte reflektierte Koedukation. Alles andere, so fürchten sie, würde Genderstereotype eher verewigen als aufbrechen.
Andrea Blunck etwa würde die Schüler:innen nur phasenweise trennen und setzt ansonsten auf eine gendersensible Ausbildung der Lehrenden, die sich der unterschiedlichen Zugänge bewusst werden sollen und auch, etwa als Grundschullehrerin, der eventuell vorhandenen eigenen Angst, mathematisch unzulänglich zu sein. Denn diese Angst wird von den Lehrerinnen an die Schülerinnen weitergegeben. Nur: „Genderkompetenz spielt für Lehrkräfte in der Uniausbildung eine geringe Rolle“, sagt Blunck. Der Schwerpunkt liege auf dem Umgang mit heterogenen Gruppen, etwa in Bezug auf Lernschwierigkeiten.
Im Mariengymnasium Papenburg, vor dem Plakat der letzten Theateraufführungen, schwärmt Michael Bloemer von den Betriebspraktika bei einer Firma aus Leer, wo die Schülerinnen vor allem programmieren. „Wir hätten gern mehr Mädchen von euch“, hieße es dort immer, „die bleiben konzentriert bei einer Sache, während die Jungen daddeln.“ „Die Jungen sind Anwender, die Mädchen sind Entwickler“, sagt Bloemer, ohne seinen Stolz zu verbergen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Helene, die Schülerin aus der 10. Klasse, hätte sich mehr von der Unterschriftenaktion erhofft. Immerhin darf künftig jemand aus der Schülerverwaltung Beisitzerin im Sitzungsrat des Bistums sein. Ihr Zorn ist weitgehend verraucht. „Ich sehe es etwas gelassener“, sagt sie, „vielleicht ist es ein bisschen zeitgemäßer und wir kommen immer näher ans Berufsleben, an die Kooperation mit Jungs.“
Aber eigentlich will sie etwas anderes: die Wahlfreiheit, dass sich auch künftig Mädchen für reine Mädchenschulen entscheiden können, ohne dass das ein großes Ding wäre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich