: Zurück nach Syrien
Vor elf Jahren verließ Nierenarzt Mustafa Fahham seine Heimat. In Deutschland baut er sich ein Leben auf. Dann fällt das Regime von Baschar al-Assad in Syrien. Und Fahham kehrt zurück
Aus Bremerhaven, Aleppo und Idlib Serena Bilanceri
Der grauschimmernde Minivan, der die Schlaglöcher abfedert, überholt die weißen, zerkratzten 9-Sitzer voller Menschen, die Männer vorne, die Frauen hinten, Kinder überall, die entlang der Landstraße holpern. Der grauschimmernde Minivan überholt das Moped, auf dem der Fahrer, ein korpulenter Mann in schwarzem Gewand und roter Kefiyah, eine Frau mit schwarzem Gesichtsschleier und Jacke mit Leopardenmuster sowie ein junges Mädchen sitzen.
Im grauschimmernden Minivan sitzt Mustafa Fahham und schaut nachdenklich aus dem Fenster. Auf die karge Landschaft, die trockene, rote Erde, die sich in goldene und grüne Streifen am Horizont auflöst, auf die Olivenbäume und Kiefern am Rand, auf die weißen Sandsteinhäuser in der Ferne. Die Luft ist noch frisch, doch die ersten Sonnenstrahlen des Morgens erwärmen sie bereits.
Fahham sitzt in grünem T-Shirt und Jeans hinten im Wagen, neben ihm hängt ein blauer Anzug mit blütenweißem Hemd von einem Bügel. Fahham hat in einem schönen Hotel im modernen Teil Aleppos übernachtet, doch heute Morgen einen Bogen um den Frühstückstisch gemacht. Wieso, das wird er später erklären. Heute ist ein wichtiger Tag im Leben des 35-jährigen Mediziners. Beruflich, aber vor allem persönlich.
Mustafa Fahham ist Nierenarzt. Diplomiert in Aleppo, weitergebildet in Hamburg. Einer der 169.280, die sich seit 2011 in Deutschland haben einbürgern lassen. Weil sie in der Bundesrepublik ihre Zukunft sahen. In Syrien, da wo sie und Fahham herkommen, gab es für sie keine Zukunft. Nur Krieg, Repression, Folter. Und Tod, Tränen, Trauer. Verlust.
Am 8. Dezember 2024 fällt nach 24 Jahren Terror das Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Eine Rebellenkoalition, angeführt von der islamistischen Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), übernimmt die Macht nahezu über Nacht. Und fast ohne Blutvergießen.
Fahham sitzt in jener Nacht vor dem Fernseher in seiner Wohnung, in einem Mehrfamilienhaus in Bremerhaven-Geestendorf, das Handy in der Hand, und kann nicht aufhören, die Nachrichten zu verfolgen, die pausenlos über den Bildschirmen flimmern. Seine Augen sind durch tiefe Ringe gezeichnet, geschlafen hat er kaum in den letzten drei Nächten. Frustriert ist er, weil er den Einmarsch der Rebellen mit eigenen Augen sehen wollte. Doch nach Syrien kann er jetzt nicht, im deutschen Krankenhaus wartet man auf ihn. Aber dass es jetzt wirklich klappt, Assad zu stürzen? Dreizehn Jahre lang haben wir es versucht, sagt er. Ohne Erfolg.
Bis eben war er mit seiner Frau und den zwei Kindern bei Freunden. Um 23 Uhr sind sie nach Hause gegangen, bis 2 Uhr ist Fahham wach. Dann ist er so müde, dass er kurz eindöst. Doch plötzlich, es ist 4 Uhr, klingelt das Handy. Aufstehen! Assad ist gestürzt!, schreit ihn die Stimme am anderen Ende der Leitung an. Ein unglaublich emotionaler Moment, sagt er und zeigt ein Bild von sich vor dem Fernseher, Syria-TV-Nachrichten im Hintergrund und ein schläfriger Fahham vorne.
In jenen zwei Stunden, als Fahham schläft, marschieren die Rebellen durch die Straßen von Damaskus. Anführer Ahmed al-Scharaa spricht noch am selben Tag aus der antiken Umayyad-Moschee an die Nation, er spricht von „Sieg“ und „neuer Geschichte“. Assad hat in den frühen Morgenstunden das Land an Bord eines Flugzeugs in Richtung Russland verlassen. Seine Soldaten haben ihre Stellungen aufgegeben und sind zu ihren Liebsten nach Hause geflohen. Es ist ein neuer Tag, es ist ein neues Syrien.
Fast vier Monate später, am 15. März, wieder in Fahhams Wohnung in Bremerhaven: Es ist genau 15 Jahre her, dass ein erster Protest den Beginn der Syrischen Revolution markiert. Es ist Ramadan und Fahham fastet, öffnet aber eine Packung Hanuta für den zweijährigen Mohammad, den jüngsten Sohn, ein Kleinkind in buntem Pyjama und Socken, mit blauen Augen und dunkelblonden Haaren, der ihn Baba nennt.
Im Wohnzimmer liegen Teppiche mit Blumenmuster unter den weinroten Sofas, das Bild von einem Holzsteg im Sonnenuntergang hängt an der Wand – typisch norddeutsch. Auf der anderen Seite stehen weiße arabische Laternen und ein Ramadan-Kalender. Ein blumiger Duft liegt in der Luft. Die zwei Kinder kreischen und spielen Fangen zwischen den Sofas, das jüngere nibbelt ab und zu an seiner Schokowaffel.
Noch lässt nichts erahnen, dass sich die Familie gerade auf eine der wichtigsten Reisen ihres Lebens vorbereitet. An jener Nacht im Dezember hat Fahham beschlossen, nach über elf Jahren Abwesenheit in die vom Krieg zerrüttete Heimat zurückzukehren. Für ein paar Wochen zumindest.
Fahham zieht den Kindern Wollmützen und Schals an, sie rennen zur Tür. Raus, zum See, wenige Hundert Meter von der Wohnung entfernt, in die kühle Morgenluft. In Bremerhaven gibt es nicht so viel Grün, nicht so viel Natur wie auf den Feldern und in den Obstgärten um seine Heimatstadt Idlib. „Wir sind bekannt für Olivenbäume, Feigenbäume“, sagt er.
In Deutschland hat sich Fahham ein schönes Leben aufgebaut. Er meistert die Sprache, dafür hat er sich in den ersten Jahren Mühe gegeben, hat Freunde, wenn auch die engeren aus Syrien stammen, kennt die besten syrischen Restaurants in Bremen und Bremerhaven, wenn das Heimweh mal wieder anklopft. Er hat sich eingelebt. Sein ältestes Kind spricht akzentfreies Deutsch. Doch der Gedanke an die Heimat, der ist nie ganz erloschen.
Vierhundert Meter und drei Straßen weiter erstreckt sich ein kleiner See, umgeben von bunten, noch nicht ganz aufgegangenen Frühlingskrokussen und leeren Sitzbänken. Eine Ente lässt sich auf der Wasseroberfläche treiben, eine Trauerweide streckt die Zweige gen Wasser. Fahham setzt sich auf eine Bank am Deich, allein, und denkt nach. Verschiedene Emotionen kämpfen in ihm. Freude, nach so vielen Jahren, nach so langer Zeit nach Syrien zurückzukehren, seine Heimatstadt wiederzusehen. Aber auch Angst.
Fünfhundert Syrer*innen sind inzwischen aus Deutschland langfristig zurückgekehrt, viele mehr kurzfristig, auch in Fahhams Umfeld. Und sie sagen: ‚Du wirst ein anderes Syrien erleben. Du wirst deine Heimatstadt nicht wiedererkennen. Viele Orte, die du kennst, sind nicht mehr da.‘
Jetzt sitzt Fahham an diesem Aprilmorgen im grauschimmernden Minivan Richtung Heimat, und denkt nach. Über seine Rede, über den Vortrag, den er am Uniklinikum in Idlib in vier Stunden halten wird. Und sicherlich über vieles anderes, seine Familie, seine Reise. Er schickt ein paar Sprachnachrichten, während draußen Jugendliche Schafe weiden. Fahham spricht ruhig und bedacht, stets um Freundlichkeit und Korrektheit bemüht.
Heute ist der große Tag. Der Tag, an dem er nach elf Jahren als Sieger in seine Heimatstadt zurückkehrt. An dem sich elf Jahre Abwesenheit in Luft auflösen sollen. Der Verbindungspunkt, der den Einschnitt dieser Jahre verschließt. Als frisch diplomierter Medizinstudent ist er gegangen, als gestandener Oberarzt kommt er zurück. Als jemand, der Konferenzen an Universitäten hält, der sich mit Ministern trifft. Fahham, der eigentlich Medienschaffender sein wollte, doch keine Zukunft für den Journalismus unter Assad sah, hat einen Verein mitgegründet. Dieser soll das Gesundheitswesen in Syrien unterstützen. Von Deutschland aus. Beatmungs- und Dialysegeräte, Workshops, Spenden, Weiterbildung. Syrian German Medical Association sein Name, gut 300 Mitglieder.
Fahham kümmert sich um die PR, die Leidenschaft für die Medien ist geblieben. Auch deshalb ist er nach Aleppo und Idlib gefahren. Sich einen Blick in den dortigen Krankenhäusern verschaffen, Ideen entwickeln, Treffen arrangieren, Öffentlichkeitsarbeit leisten. Vorträge halten. Der 35-Jährige mit den silbernen, seitlich kurz geschnitten Haaren und getrimmtem Bart sieht leicht nervös aus. Dafür hat er Gründe.
Vierzehn Jahre zuvor kam der Frühling in Fahhams Land an. Doch nicht Blumen sprossen aus der Erde, sondern Gräber. Nicht Vogelgezwitscher füllte den Himmel, sondern Explosionen und Schreie. Die Revolution, von der Fahham und seine Kommiliton*innen an der Universität von Aleppo geträumt hatten, wandelte sich in ein Massaker.
Als sich die erste Demo in Idlib zusammenfindet, im April 2011, schauen sich eine Gruppe junger Männer und Frauen in die Augen, gut 500 sind es, die sich neben der Moschee versammelt haben. Ängstlich, kaum einer traut sich, das laut zu rufen, was alle denken. Dass Assad wegmuss, dass die Menschen genug haben vom Regime, von Terror und Korruption. Dann bricht jemand das Schweigen, der Protest nimmt seinen Lauf. Die erste Demonstration verläuft friedlich, doch nach und nach verschwinden viele Teilnehmer*innen hinter den Gittern des Regimes.
Drei Proteste später, einen Monat danach, verschwinden die Menschen nicht mehr leise, sie werden direkt begeschossen. Ein junger Mann stirbt, Fahham ist dabei. Auf einem vergilbten Bild, das er mit nach Deutschland genommen hat, sieht man zwei Männer mit einer syrischen Flagge, sie stehen auf dem Vordach des Eingangstors der Universität von Aleppo, der Name ist dort in arabischer Schrift gemalt. Unter ihnen jubelt eine Menschenmenge. „Hier haben wir die Uni erobert“, sagt Fahham. Das Datum: 17. Mai 2012. Auf dem nächsten Bild sieht man acht junge Männer in weißen Kitteln, sie essen Kuchen und trinken Orangensaft. Auf dem dritten Bild trägt eine Menschenmenge die Leiche eines gefolterten Medizinstudenten, der Demonstrierende behandelte.
Vor über elf Jahren ist Fahham gegangen. Denn parallel zu den Prüfungen hat er Demonstrationen gegen Assad vorbereitet. Sicher ist es für ihn nicht mehr. Und eine Familie zu gründen, mitten im Bürgerkrieg – kaum zu denken. „Meinungsfreiheit war ein Fremdwort, Korruption war sehr verbreitet. Assad hat versucht, Alawiten gegen Sunniten auszuspielen. Viele Bekannte sind verhaftet worden. Was man jetzt in Sednaya gefunden hat, das kennen wir schon lange.“
Mustafa Fahham, 35 Jahre alt
Also geht er. 2013, als in Aleppo heftige Gefechte zwischen Rebellen und Pro-Assad-Truppen die Altstadt in Schutt und Asche legen, schließt er sein Medizinstudium ab. 2014 fährt er nach Istanbul, im Oktober landet er in Hamburg. Einer der fast 6.000 syrischen Ärzt*innen, die das deutsche Gesundheitswesen mit am Leben halten. Einer, von dem der öffentliche Diskurs abwechselnd sagt, er werde unsere Renten zahlen, und er solle zurück in sein Heimatland. Mal ist er Rettung des deutschen Gesundheitssystems, mal Bedrohung der deutschen Leitkultur.
Jetzt, elf Jahre später, ist Fahham wieder da. In den Straßen Idlibs, die vor Staub und Lärm strotzen, auf denen alte Mopeds an den Läden vorbeituckern. Läden, in deren geschwärzte Wände sich Abgase und Zeit eingefressen haben. Verkäufer stellen Obst und Waren auf dem Gehweg aus, daran vorbei laufen mit schnellen Schritten Frauen in schwarzen Gewändern, die Gesichtsschleier über Mund und Nase, sowie Soldaten in Tarnfleck mit Kalaschnikows auf dem Rücken. Und Kinder, viele Kinder. Ein harter Gegensatz zur ordentlichen Ruhe Bremerhavens.
Fahham ist nicht allein, vier syrische Ärzte aus Deutschland fahren mit. Sie tauschen sich aus über Fußball, über Orte, an denen man US-Dollar wechseln kann. Der grauschimmernde Minivan überquert einen Verkehrskreisel und biegt in eine Nebenstraße ab. Fahhams Gesicht heitert sich langsam auf, der Minivan nähert sich einer alten, teils zerbombten Moschee mit einem unauffälligen Minarett. „Hier habe ich oft gebetet, die Wohnung von meinen Großeltern lag da, hier habe ich meine Kindheit verbracht!“, ruft Fahham begeistert, als er aus dem Minivan steigt. „Wenn ich mir das so ansehe, kommen viele Gefühle hoch, ja“, sagt er. Seine Augen glänzen.
Alt und optisch nicht ansprechend ist das Viertel, das weiß Fahham. Für ihn aber: wunderschön. Jetzt wird klar, wieso er heute Morgen nicht gefrühstückt hat. Die fünf Ärzte, die mit ihren T-Shirts und Rucksäcken eher wie Touristen als Einheimische aussehen, streben mit sicherem Schritt zurück in Richtung Kreisel. An einer Straßenecke liegt ein unauffälliger Laden: Patisserie Habush.
Die Aufschrift ist knallrot, und mit den glänzenden Neonlampen wirkt er ein bisschen wie eine US-Imbissbude, vor der Kasse stehen gut ein Dutzend Menschen Schlange. Ein Geruch von Butter und Zucker strömt aus dem Ofen. 15 Minuten Wartezeit, während die Köche den Teig kneten, ihn mit Creme füllen und Zuckersirup tränken, mit Walnüssen und Pistazien bestreuen, et voilà, fertig ist Shaibiyat, das süße Gebäck, für das Idlib bekannt ist. Und auf das hier Jung und Alt, Soldaten inklusive, warten. Bitteren Kardamomkaffee servieren die Kellner in kleinen Plastikbechern dazu.
Lange musste Fahham warten, um diesen süßen Geschmack wieder zu kosten. So lange, dass die 15 Minuten wie im Wimpernschlag verfliegen. „Ich bin jetzt zwölf Jahre zurückgereist“, sagt Fahham. Die Gruppe stürzt sich auf die Tellerchen, konzentriert und mucksmäuschenstill.
Wenige Minuten später sind sie wieder draußen, nach und nach trennen sich ihre Wege, jeder begibt sich in eine andere Richtung, eine andere Klinik. Bedürfnisse erfragen, Operationen durchführen, sich schwierige Fälle ansehen. Alle gehören demselben Verein an, alle verfolgen dasselbe Ziel: etwas zurückgeben von dem Glück, das sie sich erkämpft haben. Fahham weiß, dass er privilegiert ist, dass er sich in Deutschland ein gutes Leben aufbauen konnte. Dass ein Arzt dort gut hundert Mal so viel verdient wie einer hierzulande. Dass seine Kinder nicht im dröhnenden Lärm der Explosionen und Schüsse aufwachsen mussten.
Aber davor muss der 35-jährige Arzt noch was erledigen: noch einmal das Haus seiner Kindheit sehen. Jetzt links, in die Straße rein lotst er den Fahrer. In einem ruhigen Wohnviertel steht ein vierstöckiges Haus aus weißem Sandstein mit Holztür. Hohe Kinderstimmen aus der Schule nebenan schießen in die Luft wie Feuerwerk. Ein junger Mann lehnt sich aus dem Balkon in der vierten Etage und winkt.

Fahham lächelt und winkt zurück, überfliegt nahezu die acht Treppen bis zu Wohnungstür, schon ist er da, umarmt den jungen Mann, sie nehmen sich in die Arme und lachen. Er bittet Fahham rein, der streift sich die Schuhe ab, tritt durch die Tür, schaut sich um, staunend und strahlend zugleich. Jetzt ist er wieder zu Hause. „Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben, das ich gerade empfinde? Ich kann es nicht. Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Ich hätte nie davon geträumt, dass ich meine alte Wohnung wiedersehe.“
Als Fahham vor fünf Tagen die syrisch-libanesische Grenze überquert hat, war es so dunkel, dass er kaum was sehen konnte. Gemerkt hat er nur den Gesichtsausdruck des Grenzbeamten: freundlich. Ein bis dahin unbekanntes Gefühl überkommt ihn: das Gefühl, im eigenen Land sicher zu sein. Die Angst ist weg. Zum ersten Mal hat er eine Heimat, sagt er.
In Aleppo, dessen Altstadt wie ein schreckliches, doch wunderschönes Denkmal teils noch in Trümmern liegt, trifft Fahham auf alte Kommilitonen und Professoren, schlendert durch Hörsäle und Zimmer des Uniklinikums, in denen er einst arbeitete, hält einen Vortrag, der mit dem Zeichentrickfilm über einen 20-jährigen Mann beginnt, der Medizin studiert und zusieht, wie ein Kommilitone Demonstranten hilft und von Assads Kräften getötet wird. Die Zeichentrickfigur ist der jüngere Fahham. Dann spricht er über die Arbeit seines Vereins, über das Gesundheitswesen in Syrien und Deutschland. Er lächelt, beantwortet Fragen, schüttelt Hände.
Er sitzt am Tisch mit seinen Kollegen in einem raffinierten Restaurant entlang der einstigen Kampflinie, isst Baba ganoush, Auberginenpüree, und Fladenbrot mit Fleisch, spaziert am Abend durch die Altstadt, als das orangene Licht des Sonnenuntergangs die Trümmer rosarot tüncht, redet frei mit den Kollegen über Politik, über Wiederaufbau. „Schau mal auf Deutschland nach dem Krieg“, sagt einer. Dann will Fahham früh ins Bett, morgen wird ein langer Tag. Morgen geht es nach Idlib.
Jetzt ist er da, in Idlib, in seiner alten Wohnung, fünf Zimmer, hohe Decken, rote Sofas, moderne Küche und Fahham lächelnd mittendrin. Er unterhält sich mit dem entfernten Verwandten, der jetzt in seiner Wohnung lebt, sie sprechen über Bekannte, die ausgewandert sind, weil es kaum noch Jobs gibt, essen Gebäck mit Datteln.
Es ist fast 12 Uhr und Fahham muss sich schnell umziehen, mit raschen Bewegungen streift er sich Krawatte und Anzug über. Die Anspannung ist hinter dem Lächeln sichtbar. Das Uniklinikum in Idlib ist noch teils im Aufbau, der Eingang staubig, die Wände durchfressen, die Türrahmen rostig. Die Patient*innen, zwischen denen sich Fahham durchschlängelt, sammeln sich in den Fluren, sitzen auf Tragen und Stühlen.

Endlich erreicht er den Hörsaal. Hier sitzen Frauen und Männer getrennt, die Frauen auf der linken Seite, die Männer auf der rechten. Die Treppe dazwischen bildet eine unsichtbare Trennwand. Noch spricht sein Vorredner. Fahham unterhält sich mit einigen Männern, dann geht er langsam auf das Podest zu. Der Redner verabschiedet sich, einige Student*innen stehen auf, einige verlassen das Auditorium. Pause.
Fahham checkt den Laptop, steckt den USB-Stick ein, testet sein Headset. Es funktioniert nicht. Alle setzen sich wieder auf ihre Plätze, gleicht geht es los. Fahhams Stimme hallt plötzlich in dem Raum. Das Zeichentrickbild des jungen Mannes, der in weißem Kittel zur Uni geht, läuft die über die Leinwand. Fahham lächelt.
Acht Tage später ist Fahham wieder in Bremerhaven. Er sitzt auf dem komfortablen Sofa seines Wohnzimmers, der jüngste Sohn kreischt im Hintergrund. Im Videoanruf erzählt der Nierenarzt, dass er mit der Veranstaltung in Idlib zufrieden war. Stolz, auch wenn der Vortrag derselbe war, den er in den anderen Städten gehalten hat. Für ihn aber hatte dieser einen besonderen Geschmack. Schade, dass er dann sofort wegmusste, dass die Zeit in Idlib so kurz war.
Er erzählt aber auch, dass Kinder in Nordsyrien sterben, weil es dort keine Geräte für Peritonealdialyse gibt, die Abfall aus dem Bauch herausfiltern, wenn die Nieren nicht mehr arbeiten. Dass es schwer war, Ärzte nach Latakia zu schicken, weil viele Angst hatten nach der Gewalt an den Alawit*innen im letzten Monat. Dass die Reise viel zu kurz war, dass zwölf Tage nicht fast zwölf Jahre Abwesenheit wieder gutmachen können.
Schon vermisst er die Lebendigkeit des syrischen Lebens, das Chaos. Es ist ein Heimweh, das lange in ihm schlummerte, das tief in ihm begraben war und nun wieder erweckt ist. Die Reise: wie ein Traum, aus dem er noch nicht ganz aufgewacht ist. Eine neugefundene Hoffnung, so wie die Hoffnung für die Zukunft, die auf den Straßen Syriens schwebte. Eine Wiedergeburt, sagt Fahham. Pure Glückseligkeit. „Viele Gefühle, die in mir gestorben waren, sind wieder ins Leben gekommen.“
Die nächste Reise hat Fahham noch nicht gebucht, aber sie kommt bestimmt. Aber für etwas Dauerhaftes müsste die Sicherheitslage in Syrien schon stabiler werden. Er hat Kinder, Risiken will er nicht eingehen. Und eine berufliche Perspektive dort müsste her. Aber irgendwann kehrt er zurück, vielleicht für länger.
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