Zur Phrase der „irregulären Migration“: Vergiftete Sprache
Die Wendung der „irregulären Migration“ wird inflationär benutzt. Dabei ist Migration immer chaotisch und gehört ganz anders geregelt.
![Eine Familie zieht Koffer hinter sich her Eine Familie zieht Koffer hinter sich her](https://taz.de/picture/6639873/14/34023483-1.jpeg)
H errgott, wie ist bloß diese „irreguläre Migration“ in unsere Sprache und damit in unsere Gesellschaft gesickert? Erst ganz unbemerkt, wie beim Coronavirus. Das Wachstum indes ist exponentiell. Mittlerweile vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwelche Politikleute den Begriff in den Mund nehmen und meinen, damit Wasser auf die Mühlen geschichtsvergessener Eiferer schütten zu können.
Schleichend hat der Begriff die Sprache vergiftet, das zeigt auch ein Blick ins taz-Archiv. Von 1994 bis 2013, zwei Dekaden lang, finden sich gerade einmal 6 Texte, in denen „irreguläre Migration“ steht. Anfangs in Anführungszeichen. Die Kolleg*innen spürten, dass etwas nicht stimmt mit der Phrase. Von 2014 bis zum 6. November 2023, dem Tag des Bund-Länder-Treffens zu Migration, sind es schon 140 Texte. Davon fast die Hälfte in den letzten zwei Jahren.
Politiker überschlagen sich gerade, wenn es darum geht, den Begriff zu verwenden, und die Medien liefern ihnen dafür die Plattform. Kanzler Scholz: „Unser gemeinsames Ziel ist es, die irreguläre Migration zurückzudrängen“ (ARD). Hendrik Wüst, Ministerpräsident von NRW: „Der zentrale Punkt: dass wir irreguläre Migration begrenzen“ (n-tv). Und weil es immer noch schlimmer geht, hier auch CDU-Vize Jens Spahn: „Entweder beenden die Parteien der demokratischen Mitte das Thema irreguläre Migration, oder die irreguläre Migration beendet die demokratische Mitte“ (Wirtschaftswoche). Nach Spahn ist die Demokratie also der Migration ausgeliefert, nicht der Demagogie und dem Populismus der rechten Demokratiefeinde, deren Hetze die CDU gern übernimmt. Mir wird echt schlecht.
Lange war das Wording: „illegale Migration“. Das ist eine genauso schlimme Formulierung. Die Protestbewegung reagierte. „Kein Mensch ist illegal“ lautete deren Antwort. „Kein Mensch ist irregulär“ indes taugt als Slogan nicht. Da vibriert nichts, es hat keinen Sound; „irregulär“ ist ein genialer Schachzug der PR-Polit-Strategen.
Wer von „irregulärer Migration“ spricht, macht im Umkehrschluss ein Zugeständnis. Nämlich dass es auch reguläre Migration gibt, also Migration überhaupt. Und die auch nach Deutschland. Lange war verpönt, das zu denken. Regulär und irregulär stehen sich antagonistisch gegenüber. Wie gut und schlecht. Wie weiß und schwarz. Und auf Weiß und Schwarz läuft es raus, wie zu sehen ist, angesichts der Toten im Mittelmeer.
Irreguläre Migration heißt Migration ohne Regeln. Den Deutschen wird nachgesagt, dass sie Regellosigkeit nicht gut verkraften. Etwas Geregeltes ist kontrollierbar. Aber, Leute, Migration ist immer chaotisch (außer vielleicht bei Zugvögeln und Fischen). Die Gründe dafür: Krieg, Umweltzerstörung, Klimawandel, Armut, Terror. Aktuelle Beispiele: Ukraine, Bergkarabach, Gaza, Sudan, Pakistan, Subsahara, Honduras.
Wer Migration regeln will, muss die Lebensbedingungen in den Ländern verbessern, aus denen Menschen migrieren. In Sachen Frieden ist das schwer, solange Despoten ihr Standing durch Krieg und Terror stabilisieren und Waffenverkäufe und Waffenschmuggel so lukrativ sind. In Sachen Klimawandel indes könnten alle im Westen mehr tun. Der Klimawandel zerstört Lebensgrundlagen in Ländern, wo wenig CO2 verbraucht wird. Das Ergebnis: Flucht und Migration.
Was tatsächlich „irregulär“ und also aus dem Rahmen fallend ist und reguliert werden müsste: dass die reichen Länder auf Kosten der armen das Klima zerstören. Für diesen Missstand hat noch niemand eine Phrase gesucht. Sprache ist eben immer das Aushängeschild des Denkens.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören