Zum Tod von Claus Offe: Ein Sozialwissenschaftler, der gegen den Strich dachte
Claus Offe zeigte Widersprüche auf und scheute keine öffentlichen Auseinandersetzungen. Jetzt ist er im Alter von 85 Jahren gestorben.

E s ist selten, dass sich ein international renommierter Sozialwissenschaftler so wenig an die engen Grenzen von Disziplinen hält. Claus Offe bewegte sich elegant zwischen Soziologie, Politikwissenschaft und Politischer Ökonomie, um 1970, mit gerade 30 Jahren, zu einem der führenden Vertreter des Neomarxismus und der New Left in Europa zu werden.
Immer wieder stellte Claus Offe sich dem öffentlichen politischen Schlagabtausch, so bereits 1961 als Mitverfasser der SDS-Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“. Nach dem Studium führte ihn seine akademische Laufbahn nach der Mitarbeit bei Jürgen Habermas in Frankfurt und Starnberg (mit einer Zwischenstation in Berkeley) nach Bielefeld, wo er 1975 seine erste Professur antrat.
Gegenüber vielen Mitstreitern zeichnete ihn sein unbefangener Umgang mit dem Marx’schen Erbe aus. Offe nutzte dieses Erbe als Werkzeugkasten, der wichtige Elemente für eine zeitgemäße Gesellschaftsanalyse bereithält. Er war jedoch nicht daran interessiert, die Wirklichkeit dogmatisch in ein vorgegebenes Kategorienraster zu pressen.
Vor allem seine frühen Arbeiten beschäftigen sich mit dem schwierigen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus: Wie ist das Versprechen staatsbürgerlicher Gleichheit mit einer Wirtschaft kompatibel, die systematisch soziale Ungleichheit produziert? Die Antwort lag für ihn in der wohlfahrtsstaatlichen Zähmung des Kapitalismus.
ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Augsburg. Bei Claus Offe schrieb er seine Diplomarbeit, seine Promotion und seine Habilitation.
Unprätentiös und autoritätskritisch
Er sah freilich auch, dass diese Zähmung Ungleichheiten nicht generell beseitigt, sondern etwa Gruppen ausgrenzt, die nicht über die Organisationsmacht der Industriearbeiterschaft verfügen. Die Beiträge aus dieser Phase – wie der Klassiker „Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“ (1972) – sind nach wie vor aktuell.
Offe dachte gegen den Strich. Er zeigte Widersprüche auf und durchleuchtete Paradoxien. In seinen späteren Arbeiten befasste er sich mit der unter Druck geratenden Sozialpolitik in einer erneut entfesselten kapitalistischen Ökonomie. Zugleich erschloss er neue Pfade, auf denen er seine früheren Thesen verfeinerte und mit Fragen der Demokratietheorie verknüpfte.
So rückte er ab 1980 die neuen sozialen Bewegungen zu den Herausforderungen der ökologischen Krise in seinen Betrachtungen stark in den Vordergrund. In den 1990ern lieferte er scharfsinnige Analysen zur Transformation Osteuropas nach dem Kollaps des real existierenden Sozialismus. Dies gilt auch für sein letztes Buch, „Europa in der Falle“ (2016), in dem er eine Umverteilung aus EU-Mitteln einfordert, die, wie es im Schlusssatz heißt, „diesmal nicht der Rettung von Banken und Staaten gewidmet [ist], sondern der von Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Jugendlichen, Rentnern und anderen Bürgern, die in erster Linie die Leidtragenden der Krise … sind.“
Offe zeigte Bruchstellen auf und diagnostizierte Krisenpotentiale. Doch er machte auch durchaus Vorschläge, sei es als Befürworter eines universellen Grundeinkommens oder als Verfechter des Umbaus Europas zu einer transnationalen Solidargemeinschaft. Er war ein engagierter öffentlicher Intellektueller, der die Positionierung außerhalb des Elfenbeinturms nicht scheute. So setzte er im bleiernen Jahr 1977 als Mitunterzeichner des „Buback-Nachrufs“ seinen professionellen Status für die Verteidigung der Meinungsfreiheit aufs Spiel.
Offe war nicht nur ein herausragender Sozialwissenschaftler. Er verkörperte auch ein Wissenschaftsverständnis, das fachliche Exzellenz mit einem unprätentiösen und autoritätskritischen Auftreten verband, wie diejenigen wissen, die ihn als Lehrer, Kollegen oder Freund erleben durften. Am vergangenen Mittwoch ist er im Alter von 85 Jahren gestorben.
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