Zum Tod des Bergsteigers Ueli Steck: Das Leben, ein Risiko
Der Bergsteiger Ueli Steck verschob die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit. Ende April ist er im Himalaja tödlich abgestürzt.
Wenn er über die Gefahren seines Berufs sprach, der nicht nur sein Beruf war, sondern sein Leben, dann klang das ziemlich nüchtern.
Sobald wir in die Berge gehen, haben wir ein Restrisiko. Wenn du nicht akzeptieren willst, dass du mal einen Unfall haben kannst, dann darfst du nicht in die Berge gehen. Aber das ist doch überall so. Wenn du nicht akzeptieren kannst, dass du jemals einen Autounfall hast, dann darfst du nicht ins Auto steigen. Nur dann hast du das Risiko auf null minimiert. Aber wenn unser Leben zu sicher wird, dann ist es auch nicht mehr interessant.
Das Risiko, so hat es Ueli Steck gesehen, ist immer sehr subjektiv, es hängt sehr stark von dem eigenen Können und ab und den eigenen Entscheidungen. Und dann ist da dieser kleine Rest.
Restrisiko. Ein hässliches Wort.
Aber er hat wohl gar nicht so oft an das Risiko gedacht, wenn er nicht gerade darauf angesprochen wurde. Er hatte, so hat er es zumindest beteuert, keinerlei Angst mehr, sobald er in die Wand eingestiegen ist. Sobald er geklettert ist. Sobald er frei war.
Das erste Mal mit zwölf, mit einem Freund seines Vaters. In der Schrattenfluh im Schweizer Emmental, wo er aufwuchs, ein Zacken, 20 Meter hoch, 4. Grad, nur zwei Haken. Keine Situation aus dem Alpenvereinslehrbuch. Er schaffte es und war angefixt. Schon als Teenager kletterte er im 9. Schwierigkeitsgrad, viel schwieriger ging damals nicht. Mit 18 Jahren bezwang er zum ersten Mal die Eigernordwand.
Sein Spitzname: „Schweizer Maschine“
Einen ordentlichen Beruf hat er auch gelernt, Zimmermann, und auch darin gearbeitet, bevor er Profibergsteiger wurde. Sein Spitzname: „Schweizer Maschine“. Er spezialisierte sich auf schnelle Touren in den Alpen und im Himalaja, viele ging er „free solo“, ohne Seilsicherung.
Am Fels tastete er sich vor, wie ein Seefahrer in unbekannte Gewässer. Er kletterte eine Seillänge ohne Seil, dann eine zweite, dann immer weiter.
In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wird gewählt. Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) sind die Hoffnungsträger ihrer Parteien. Wer kann liberale Wähler überzeugen? In der taz.am wochenende vom 6./7. Mai beschäftigen wir uns mit einem neuen Liberalismus. Außerdem: Männer, die ältere Partnerinnen haben. Wie liebt es sich mit dem Tabu? Und: Patricia Purtschert ist Gender- und Kolonialismusforscherin. Warum sie ihrer Tochter trotzdem Pippi Langstrumpf vorliest. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Dass es 500 Meter runtergeht, das ist völlig egal. Denn du fällst nicht runter, in deinem Kopf gibt es die Option gar nicht. Ich habe da ja einen Griff, den lasse ich jetzt nicht los. Ich stehe auf einem Tritt, ich stürze nicht ab. Ob ein Griff gut oder schlecht ist, das checke ich sehr viel besser, wenn ich ohne Seil klettere.
Bei den schwierigen Mixed-Touren in Fels und Eis ging es ihm auch um Schnelligkeit. Weil Schnelligkeit Sicherheit ist, wenn das Wetter jederzeit umschlagen kann. Und weil er schlicht zeigen wollte, dass es immer schneller geht. Immer besser.
Die Eigernordwand ist er irgendwann einfach hoch gerannt. Rekord: Zwei Stunden, 22 Minuten, 50 Sekunden. Wenn man sich Videos davon anschaut, denkt man, dass die Eisgeräte in seinen Händen zu einem Teil seines Körpers geworden sind.
Ein Außenseiter in der Bergsteinerszene
Er war einer der besten Alpinisten der Welt, vielleicht sogar der beste. So genau lässt sich das nicht sagen, weil Bergsteigen kein Sport ist, den man einfach so mit der Stoppuhr messen kann. Er hat sich selbst als Außenseiter der Bergsteigerszene gesehen, und außerhalb der Szene war er nicht so berühmt wie andere. Auch wenn er wie kaum einer sonst die Grenzen dessen ausgetestet hat, wozu ein Mensch in der Lage ist.
Er selbst hat das auch darauf geschoben, dass er sich eben nicht so gut vermarkte. Weil es ihm nicht auf tolle Bilder ankomme, sondern nur auf die Leistung. Ein Leistungssportler sei er, kein Abenteurer, das betonte er gern.
Wenn Sie irgendwo am Limit sind, hat keiner mehr die Zeit und Energie, noch zu fotografieren. Umso mehr Bilder es von einer Erstbegehung gibt, desto einfacher ist die Tour. Das ist kein Problem. Man muss sich nur entscheiden, was man will. Ich habe sehr viele schwierige Touren gemacht, von denen niemand weiß.
Er sparte nicht mit Seitenhieben auf Kollegen, die tolle Berggeschichten erzählen, die mit Red Bull zusammenarbeiten, damit am Ende ein bildgewaltiger Film dabei herauskommt. Aber auch er lebte von Sponsorengeldern und Vorträgen, die ihn auch in die USA führten oder nach Japan. Er war ein guter Redner; was er über Leistung, Erfolg und Scheitern erzählte, kam gerade auch bei einem eher bergfernen Publikum gut an.
Jedes Gramm zählte
Er verstand sich als „athletischen Alpinisten“, hörte auf die Erkenntnisse der Sportwissenschaft, trainierte Ausdauer systematisch in der Höhe und schraubte an der Ausrüstung. Jedes Gramm weniger zählte, um die Leistung zu steigern.
Das Bergsteigen ist immer noch auf sehr bescheidenem Niveau, rein sportlich gesehen. Die meisten, die etwa im Himalaja unterwegs sind, machen dasselbe wie vor 30 Jahren. Wie viele wirklich schwierige Erstbegehungen gibt es im Himalaja, bei den 8.000ern?
Er versuchte sie. Die meiste Aufmerksamkeit bekam er, wenn oben in der Todeszone Emotionen ins Spiel kamen. 2013 gerieten er und seine zwei Begleiter am Mount Everest auf rund 7.000 Metern Höhe mit einem Sherpa aneinander, der gerade Fixseile präparierte. Der Streit eskalierte, rund 100 Sherpas jagten die drei, es gab Schläge und einen Stein ins Gesicht.
Es ging um Geld, Konkurrenzdenken und verletzte Eitelkeiten. Mittendrin ein Bergsteiger, der einfach nur auf einer möglichst schwierigen Route auf den Gipfel möchte. Und der sich plötzlich mit Vorwürfen herumschlagen musste, er habe die Sherpas provoziert. Mit kommerziellen Touren für Hobbybergsteiger konnte er nichts anfangen, aber er sagte immer: Jeder, wie er mag.
Die meisten extremen Erfahrungen – im Schlechten wie im Guten – machte er am Annapurna. Bei seiner ersten Expedition rutschte er mehrere hunderte Meter ab. Seinen zweiten Versuch brach er ab, um einen Kollegen zu retten, der am Ende doch nicht überlebte. Und beim dritten Mal bezwang er die Südwand des 8.091 Meter hohen Himalaja-Gipfels im Alleingang. Dafür bekam er seinen zweiten Piolet d’Or, den Oscar für Alpinisten. Doch dann kamen Zweifel auf, ob er wirklich auf dem Gipfel war.
Ueli Steck
Wenn man in einer Höhe ist, wo nur noch 30 Prozent so viel Sauerstoff ins Blut kommt wie auf Meereshöhe, denkt man über andere Sachen nach. Noch nie hat jemand ein GPS mitlaufen lassen, und dann hieß es plötzlich, das sei ganz normal. Das hat mich alles schon sehr getroffen. Ich denke, da ist sehr viel Neid dabei. Die Leute denken, das etwas nicht möglich ist, nur weil sie es sich nicht vorstellen können.
Er wusste, dass er nicht ewig auf diesem jenseitigen Niveau wird bergsteigen können, ein paar Jahre vielleicht noch. Er trainierte und kletterte und sah seine Frau oft für längere Zeit nicht. Auch in Europa suchte er neue Herausforderungen: 2015 erklomm er alle 4.000er der Alpen und legte die Wege dazwischen zu Fuß, mit dem Fahrrad und dem Gleitschirm zurück. 82 Gipfel und 117.000 Höhenmeter in 62 Tagen. Wenn er davon erzählte, klang das wie ein Sonntagspaziergang.
Seine letzte Tour führte ihn wieder in den Himalaja. Er wollte den Mount Everest auf der Hornbein-Route besteigen, die noch nie wiederholt wurde, und von dort gleich auf den Lhotse, auch ein 8.000er. Ohne Sauerstoffflasche natürlich. Das hat noch nie jemand gemacht. In einem Interview vor der Abreise sagte er: „Scheitern heißt für mich: Wenn ich sterbe und nicht heimkomme.“
Er stürzte 1.000 Meter tief
Auf seiner Facebook-Seite berichtete er noch von einer schnellen Akklimatisierungstour vom Basislager auf 7.000 Meter. „Ich liebe es. Es ist hier so ein toller Ort.“ Vier Tage später, am 30. April, kletterte er zur weiteren Vorbereitung am Nuptse, gleich neben dem Mount Everest. Er stürzte 1.000 Meter tief.
Auch über den Tod hat Ueli Steck gelassen gesprochen, als ich ihn vor gut einem Jahr traf.
Jeder von uns wird sterben. Wann und wo, das wissen wir zum Glück nicht. Es macht auch keinen Sinn, wenn wir uns darüber jeden Tag den Kopf zerbrechen. Wir müssen uns darüber bewusst sein und unser Leben so gestalten, wie es für uns passt. Und der Rest wird von alleine kommen.
Ueli Steck wurde 40 Jahre alt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt