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Zukunft der KirchenWas Kirchen sein könnten

Tanja Tricarico
Kommentar von Tanja Tricarico

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt. Wenn sich die Apparate nicht bewegen, werden Kirchen bedeutungslos. Das würde Löcher ins soziale Netz reißen.

Leere Kirchenbänke: 2022 dachte jedes vierte Kirchenmitglied über einen Kirchenaustritt nach Foto: Imago

E s ist ein fester Termin im Leben von rund 50 Kindern zwischen 4 und 11 Jahren. Jede Woche kommen sie zum Singen in einem Raum in einem Berliner Hinterhof zusammen. Das Chorprojekt im Kiez ist ein Angebot der evangelischen Kirche, offen für alle Kinder, ob getauft, evangelisch oder konfessionslos. Das Mitmachen ist kostenlos, nach Auftritten gibt es ein Mittagessen, Kuchen, Getränke, Geschenke zu besonderen Anlässen.

In dem Viertel wird die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinner- und Verliererfamilien immer sichtbarer. Für viele Kinder ist der Chor eine Nachmittagsbeschäftigung, wenn die Eltern bei der Arbeit sind und sie sich sonst selbst überlassen würden.

„Na hoffentlich wird da auch nur gesungen!“ Diesen Satz hören die Ge­mein­de­mit­ar­bei­te­r:in­nen und auch die Autorin dieses Textes, deren Kind mitsingt, immer wieder. Was folgt, sind Erklärungen, Rechtfertigungen, gepaart mit Verständnis für diese Aussage. Denn: Die kleine Bemerkung zeigt exemplarisch, wie groß das Misstrauen gegenüber den christlichen Kirchen ist.

Die im Laufe der vergangenen Jahre aufgedeckten Taten sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen, begangen von Pfarrern und Kirchenmitarbeitern, schwingen in dem Satz mit. Vor allem aber das Schweigen, Vertuschen und Leugnen seitens der Führungsriege der Kirchen.

Weder die katholische noch die evangelische Kirche haben für völlige Aufklärung, geschweige denn für Konsequenzen für die Täter gesorgt. Trotz etlicher Treffen mit Betroffenen, trotz Kommissionen oder Studien, die in großem Umfang in Auftrag gegeben wurden. Hinzu kommen völlig verknöcherte Strukturen, insbesondere in der katholischen Kirche. Reformbemühungen für die Ordination von Frauen beispielsweise, für die bedingungslose Akzeptanz von queeren Menschen oder für die Abschaffung des christlichen Arbeitsrechts sind gescheitert.

Die Enttäuschung schlägt sich auch in Zahlen nieder. Laut aktuellem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat jedes vierte Kirchenmitglied im vergangenen Jahr über einen Austritt aus der Kirche nachgedacht. Bei den Austrittswilligen sind Ka­tho­li­k:in­nen mit zwei Dritteln deutlich stärker vertreten. Wer Mitglied in einer christlichen Kirche ist, gehört derzeit und auch künftig zu einer Minderheit.

Werden die Kirchen nicht mehr gebraucht? Welche Funktion haben sie in einer sich zunehmend säkularisierenden Gesellschaft? Hinterlassen sie eine Leerstelle oder driften sie in die Irrelevanz ab?

Die Aufgabe lautet, diskursive Räume zu öffnen und sich mutig an die Seite Bedrängter zu stellen

Im Kleinen gedacht, würde es ohne den Einsatz der evangelischen Kiezgemeinde den Kinderchor nicht geben, denn eine kostenlose Alternative fehlt. Ziemlich sicher würde auch der ein oder andere Se­nio­r:in­nen­treff in manchen Kleinstädten verschwinden oder das Freizeitangebot für Geflüchtete. Bei etlichen sozialen Projekten leisten die Kirchen, was andere Wohlfahrtsorganisationen oder private Initiativen nicht stemmen könnten.

Größer gedacht, haben die Kirchen die Funktion, den Raum für Diskurse zu öffnen. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sieht eine erschöpfte Gesellschaft, die durch Corona, Klima, Krieg aus dem Tritt geraten ist. Kann Kirche helfen, die „kollektiven posttraumatischen Belastungsstörungen“ zu heilen?

Es ist ihr Auftrag, im Dienste des Menschen zu stehen, und zwar in dem Sinne, dass die Würde des Menschen an erster Stelle rangiert. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen eine Krise die nächste jagt, die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auf Jahre sichtbar sein werden – sei es durch Menschen, die Zuflucht vor der Gewalt Russlands suchen, oder durch gestiegene Preise für Energie oder Lebensmittel – und antidemokratische Strömungen fest entschlossen sind, mittelfristig salonfähig zu werden.

Die Kirchen können Räume dafür schaffen, die eigene Hilflosigkeit zu formulieren, etwa wenn es um das Für und Wider für Lieferungen schweren Kriegsgeräts an die Ukraine geht. Die Hoffnung auf baldige friedliche Verhandlungen hat sich längst zerschlagen. Po­li­ti­kent­schei­de­r:in­nen sind zu besonnenem Abwägen oft nicht mehr in der Lage. Der Eine-Welt-Kreis, die Gemeinde, selbst die Synode aber schon.

Und mutig konkret stellen sich kirchliche Initiativen – auch in den Ostbundesländern – an die Seite von De­mons­tran­t:in­nen gegen Faschist:innen, Anti-Demokrat:innen und die AfD. Im Schutze der Kirchen als Institutionen können ihre Ver­tre­te­r:in­nen ins Gespräch mit Menschen kommen, die leicht anfällig sind für gefährliche Propaganda und Desinformation.

Insbesondere im ländlichen Raum, wo der Pfarrer oder die Pfarrerin respektierte Instanz an der Kaffeetafel beim 70. Geburtstag ist, bei der Beerdigung des Dorfältesten – gerade dort, wo gerne über vermeintlich unsinnige Entscheidungen von „denen da oben“ geschimpft oder gegen Mi­gran­t:in­nen gehetzt wird.

Kirchliche Ver­tre­te­r:in­nen an der Basis sind nicht zu unterschätzen. Aber sie können ihre Funktion nur erhalten, wenn sie in die Kooperation gehen mit denen, die mit Kirche eigentlich nichts am Hut haben. Zum Beispiel mit der queerfeministischen Initiative, für die das Recht auf selbstbestimmte Abtreibung gesetzt ist, mit Klimagerechtigkeits- oder Antifa-Gruppen, die hierarchische Strukturen ablehnen. Die Kirchen müssen politisch Haltung beziehen, im Sinne der Würde des Menschen.

Stattdessen stecken sie im Glaubwürdigkeitsdilemma. Die Führungsriege übt sich im Abwiegeln und lehnt es ab, sich dem „Zeitgeist“ anzupassen. Der Weltjugendtag in Lissabon stand unter dem Leitwort: „Maria stand auf und machte sich eilig auf den Weg“. Wenn dem Leitwort keine Taten Richtung Aufarbeitung und Toleranzinitiative folgen, rutschen die Kirchen weiter in die Bedeutungslosigkeit ab.

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Tanja Tricarico
wochentaz
Schreibt seit 2016 für die taz. Themen: Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungszusammenarbeit, früher auch Digitalisierung. Leitet derzeit das Politik-Team der wochentaz. Privat im Einsatz für www.geschichte-hat-zukunft.org
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12 Kommentare

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  • Ich bin katholisch geboren und werde auch als Katholikin sterben.

    • @V M:

      aus der katholischen Kirche wäre ich damals nicht ausgetreten, heute schon.

  • Die Kirchen verlieren Mitglieder, weil immer weniger Menschen das Bedürfnis nach Kirche haben und es praktisch keinen öffentlichen oder familiären Druck gibt, der die Leute vom Austritt abhält. Inzwischen kann sich jeder Mensch die Religion und den Glauben frei aussuchen, nach dem er leben will. Und das ist sehr oft nicht mehr der "christliche Glaube" - was man da auch immer drunter verstehen mag.

  • > Im Kleinen gedacht, würde es ohne den Einsatz der evangelischen Kiezgemeinde den Kinderchor nicht geben

    Vielleicht könnten die zusätzlichen Steuergelder bei Kirchenaustritten (Kirchensteuer geht vom zu versteuernden Einkommen ab) dafür genutzt werden, gerade solche Ereignisse Zivilgesellschaftlich zu organisieren?

    > Größer gedacht, haben die Kirchen die Funktion, den Raum für Diskurse zu öffnen

    Wie soll ich denn in Diskurs gehen, wenn eine Kernannahme der Organisatoren ist, dass Ungläubige bekehrt werden sollen?

    Ein Kirchenunabhängiger Nachbarschaftstreff und ein Verein zur Förderung gemeinsamem Singens würden das mit weniger Problemen erreichen.

    Die einzige Schwierigkeit, die ich sehe, ist dass die großen Kirchen zumindest einen Grundstock an menschenfreundlichen Annahmen mitbringen — nicht durch die religiösen Regeln selbst, sondern durch den Gedanken der Menschenliebe, dem viele wirklich anhängen, und durch den Fokus auf Kindeswohl (trotz der Skandale gibt es den).

    Diese Ausrichtung an dem Guten im Menschen müsste erhalten und ausgeweitet werden, damit nicht die Gefahr besteht, dass am Ende der Kinderchor von Rechtsextremen und der Seniorentreff von Scientology-Anhängern organisiert werden.

  • "Es ist ihr Auftrag, im Dienste des Menschen zu stehen, und zwar in dem Sinne, dass die Würde des Menschen an erster Stelle rangiert."

    Nein. Der Auftrag ist, die christliche Botschaft zu verbreiten. Sehr lange auch explizit gegen die Würde des Menschen. Besonders des weiblichen Menschen.

    "...Beerdigung des Dorfältesten..."

    Wo bitte gibt es Dorfälteste?

  • als häretischer, christopaganer Gnostiker im Archetypen/astrologisch-psychologischen Sinne C.G. Jungs, warte ich auf den Tag, an dem das 1. Gebot kommentiert werden darf. Und trete in jene Kirche dann gern wieder ein. Wer orthodoxer glauben möchte, darf es weiterhin gern tun. Nur sollte er ebenso seine Angehörigen (inkl. Kinder) frei selbstbestimmen lassen. Sei es als Agnostiker oder als Gläubige. Auch Kinder haben meist schon erkennbare Vorlieben, was sie freiwillig glauben mögen, und was eher nicht - im kindgerechten Rahmen!

  • Ich bin evangelisch getauft und konfirmiert und Agnostiker. Meine Kirchensteuer zahle ich gerne, weil die EKD ein modernes Menschenbild vertritt und viele gute Projekte im Angebot hat. Ich vermute, viele Kirchenaustritte sind der mangelnden Differenzierung zwischen EKD und Evankelikalen geschuldet. Hier in Mittelhessen gibt es sogar Kreationisten, die bekommen aber keine Kirchensteuern. An der Zukunftsfähigkeit der KKD darf gezweifelt werden. Schade um die Anständigen und Aufgeklärten, die es natürlich auch dort gibt.

    • @Prayn:

      Ich bin in Mittelhessen aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Die Sachbearbeiterin sagte, die größte Gruppe seien Jugendliche, die wegen der Kirchensteuer austreten. Wenn sie dann heiraten, wollen sie das Brimborium oft doch wieder und gehen beim Pfarrer betteln.

  • Mir scheint die Autorin gesteht Kirchen nur einen rein weltlichen Zweck zu; Religion und Glaube stehen nicht nur am Rande sondern spielen überhaupt keine Rolle mehr. So eine Kirche braucht niemand. Das können rein weltliche soziale Organisationen besser.

  • Aber wenn man die jährlichen Einnahmen der Kirche und ihr bestehendes Vermögen bedenkt, bin ich mir nicht mehr so sicher wie hoch die Leistung einzuschätzen ist.

    Kirchensteuer pro Jahr



    katholisch ca 6,8 Milliarden



    evangelisch ca 6 Milliarden



    Zusätzliche Staatsleistungen 602 Millionen



    Grob geschätztes Vermögen von ca 400 Milliarden für beide Konfessionen

    Da könnte man den einen oder anderen Chor mit betreiben.



    Wenn man die Chefetage der katholischen Kirche betrachtet ist der Artikel ein frommer Wunsch sonst nix

  • " Kann Kirche helfen, die „kollektiven posttraumatischen Belastungsstörungen“ zu heilen?"



    definitiv nicht und das ist auch sehr gut so.

    "Wenn dem Leitwort keine Taten Richtung Aufarbeitung und Toleranzinitiative folgen, rutschen die Kirchen weiter in die Bedeutungslosigkeit ab."



    Gut so, Religion gehört ausschließlich in private Räume.

    Damit die Kirche als Institution eine glaubhafte Instanz für die weite, auch nicht gläubige, Bevölkerung werden kann, müsste sich komplett schonungslos aufarbeiten und sich komplett neu reformieren.

    Religion lebt von der Auferlegung von Dogmen und dem Erklären von Sünde.

    Im 21. Jahrhundert benötigt niemand mehr solche Lehren.

    Kirche und Staat gehören schon lange getrennt und auch die Religionsfreiheit gehört auf den Prüfstand, ist sie doch seit eh und je eine Einbahnstraße.

  • „Maria stand auf und machte sich eilig auf den Weg“

    Je nach Bundesland zum Standesamt oder zum Amtsgericht, um aus der Kirche auszutreten.