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Zu viele Corona-TagebücherFade wie Furzen

Die aktuelle Tagebuchflut ist nichtssagend. Dabei gäbe es so viel interessanteren Stoff. Die ihn erleben, haben aber keine Zeit zum Schreiben.

Meine gesammelten Abenteuer Foto: Rene Traut/dpa

A ls ich zehn war, bekam ich mein erstes Tagebuch. Ein blaues Exemplar mit einer Diddl-Maus vorne drauf. Mein Onkel verarschte mich und riet mir, unbedingt so detailliert wie möglich zu schreiben. Schließlich wüsste man nie, ob man nicht als Bekanntheit stirbt und die Tagebücher veröffentlich würden.

Schon damals durchschaute ich das System Kinderselbstbetreuung, doch ich befolgte seinen Rat. Nach meinem Besuch im Phantasialand hieß es etwa: „Am Eingang (10:30) haben wir die Karten (Kinder 19,50€) gekauft und sind reingegangen. Ich war 4-5 Mal in der Geisterbahn, (…) auf dem Doppelkarussell 4x, 3x Galaxi, 2x Auto Shooter“ und so ging es noch eine ganze Seite weiter.

Etwa so unspektakulär wie die Ergüsse aus der neuen Textgattung Corona-Tagebuch, dem letzten Unbehagen, das in Pandemie-Zeiten gefehlt hat. Eigentlich sind Tagebücher alles andere als irrelevant. Anne Frank, Kurt Cobain, Alice Walker und Frida Kahlo haben etwas gemeinsam: Ihre Tagebücher bilden ein Archiv von Erfahrungen und Beobachtungen, die entweder systematisch ausgelöscht oder gesellschaftlich stigmatisiert wurden und es teilweise noch werden.

Corona-Tagebücher sind größtenteils jedoch fade Protokolle aus der weißdeutschen Bürgerlichkeit, mit oder ohne Einblicke ins Hetero-Kleinfamilienleben. Manche schreiben nieder, dass sie wieder kein Klopapier beim Einkaufen bekommen haben, andere sind irgendwo „gestrandet“, weil sie trotz der ersten globalen Lockdowns noch ihren Flug nach Marrakesch oder einen anderen Urlaubsort wahrnehmen wollten. Oder sie mussten über zwei Tage lang online Schlange „stehen“, um 5.000 Euro auf Merkels Nacken zu beantragen.

Keine Blockbuster

Diese Erfahrungen sind weder unsichtbar noch selten. Es ist wie beim Furzen. So ziemlich jeder Mensch kennt es. Aber schreiben alle darüber? Zum Glück nicht. Es benötigt ein gewisses Maß an Entitlement, an Anspruchshaltung, um davon auszugehen, dass der eigene gewöhnliche Film, der leise im Kopf geschoben wird, eigentlich ein Blockbuster ist, der zur Primetime ausgestrahlt werden sollte. Wen juckt es, was Leonie oder Clemens in ihre Tagebücher schreiben, wenn sie original dasselbe erleben wie 70 Prozent der Gesellschaft?

Viel interessanter wären die Corona-Tagebücher von Menschen, die gerade keine Zeit dafür haben, ihre Erfahrungen aufzuschreiben, weil ihre Berufe das System aufrechterhalten. Krankenhauspersonal, Lieferbot_innen, Supermarktangestellte und die Sicherheitskräfte, die neuerdings den Drogerie- oder Baumarkt ins Berghain der Zeiten von Physical Distancing verwandeln.

Sie haben es nicht nur mit dem Querschnitt der Gesellschaft zu tun, sondern sind gezwungenermaßen beschäftigt mit dem Sammeln von Eindrücken, dass sie nicht dazu kommen, nach vier Tagen Langeweile in der Eigenheim-Residenz eine_n auf Max Frisch zu machen. Herkömmliche Tagebücher sind nicht ohne Grund mit einem Schloss versehen.

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Hengameh Yaghoobifarah
Mitarbeiter_in
Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik an der Uni Freiburg und in Linköping. Heute arbeitet Yaghoobifarah als Autor_in, Redakteur_in und Referent_in zu Queerness, Feminismus, Antirassismus, Popkultur und Medienästhetik.
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9 Kommentare

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  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Das Beste kommt bekanntnlich zum Schluss. Voilà:

    Wer "Fade wie Furzen" schreibt, zeigt nur Eines: dass er diese hohe Kunst offenbar nicht beherrscht. Dabei ist sie leicht erlernbar.

    Doch das an einem anderen Ort. Ich schreibe gerade an meinem ganz persönlichen Scheiss-Buch. Und muss mich deshalb ganz schnell hier entwinden. :-)

  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Fade wie ein Furz? Belanglos? Selbstkritik die eigenen Kolumne betreffend?

  • 2G
    2830 (Profil gelöscht)

    Es ist das Bedürfnis vieler Menschen sich kundzutun um etwas Aufmerksamkeit, vielleicht sogar fame zu erhaschen. Ebenso groß ist das Bedürfnis es diesen Personen zu zeigen, ihnen Relevanz abzusprechen und sich damit besser zu stellen. Beide Haltungen sind keinen Furz wert. Im Übrigen fände ich es erbaulich einen Furz intensiv und eindringlich in Worten präsentiert zu bekommen. Das wäre eine Bereicherung – kein Drüberstehen.

  • Hinzuzufügen wäre noch die Gedanken (Journal) von Carolin Emcke. Leider wird ihr Schreibstil immer kitschiger, sie mutiert leider immer mehr zu Paulo Coelho für Intellektuelle . Ihr Publikum ist auch sehr ergriffen.

  • Kurz und knapp: die Corona- Tagebücher sind ungefähr so interessant wie diese Kolumne.

  • nun ja ... etwa 100% der Befindlichkeits- und Stattfindeberichte sind sterbenslangweilig. Ob nun Corona oder Fotos vom Mittagessen ist da egal.



    Ebenso egal ist, wer sowas schreibt, Weiß, Hetero, Männlich und Alt ist genau so interessant wie Junge Schwarze Lesbe.



    Also, was solls?

  • Corona-Tagebücher von Leuten in "Home-Office" hängen mir fast so sehr zum Hals raus wie Corona selbst. Von den "Systemrelevanten" höre ich hingegen nicht so viel. Daher 100% Zustimmung! Danke!

  • Es sollte jede(r) tolerant genug sein, die anderen "fade Protokolle aus der weißdeutschen (sic!) Bürgerlichkeit" erstellen zu lassen.



    Sie müssen ja nicht gelesen werden.



    Oder sollen zukünftig auch die taz-Artikel nach den Aspekten "Weißdeutsch" und "Bürgerlich" zensiert werden?



    Ich glaube nicht, dass die Isolation meiner afrikanischen Nachbarin mit ihrem skandinavischen Ehemann interessanter ist als meine. Sind wir etwa zu "hetero", um darüber schreiben zu dürfen?

    • @Saccharomyces cerevisiae:

      Dann sollten weißdeutsche Bürgerliche wie wir aber auch tolerant genug sein zu akzeptieren, dass andere unsere Protokolle fade finden. Und dass sie das auch sagen.

      Merke: Hier hat niemand Zensur gefordert. Hier hat nur jemand ausgedrückt, dass sie frustriert ist über unsere faden Ergüsse und dass wir sie so wichtig nehmen. Warum fühlen Sie sich denn davon auf den Schlips getreten?