Zivilgesellschaft in Deutschland: Was nun, Demokratie?
Alle gehen auf die Straße und wollen die Demokratie retten. Gut! Aber eines muss klar sein: Die Zivilgesellschaft ist antifaschistisch – oder nichts.
D ass Tausende auf die Straßen gehen, um gegen die extreme Rechte, die AfD und ihre medialen Echokammern zu protestieren, wird von vielen als gutes Zeichen angesehen. Die demokratische Zivilgesellschaft, so scheint es, ist aus ihrem Schlaf erwacht, und sie macht sichtbar, dass sie, trotz allem, in der Lage ist, den öffentlichen Raum, das Ur-Medium der Demokratie (und zugleich den Ort ihrer höchsten Gefährdung) zu besetzen und zu verteidigen. Die Skeptiker hingegen reden von „Strohfeuer“, „Unverbindlichkeit“, davon, dass die Demonstrationen den Rechten eher nutzen als schaden. Aber worum es geht, ist weder eine naive Euphorie noch eine fatalistische Nörgelei. Es geht um die Frage: Was nun?
Wir beobachten seit geraumer Zeit, wie die Rechte einen „Kulturkampf“ führt: Infiltration kultureller Einrichtungen, beständige Propaganda gegen die „grünlinks versiffte“ Kultur, stete Überschwemmung mit Hass und Hetze, Entwicklung rechter Netzwerke, Medien und Allianzen. Das alles trifft auf eine erschöpfte, in sich gespaltene, ratlose und unfreie Kulturszene. Es geht nicht mehr allein um die „Verteidigung“ der Kultur, sondern um eine wirkliche Belebung, um neue Anfänge. Das ist keinesfalls nur eine Frage des Geldes. Es ist immer auch eine Frage der Haltung. Sagen wir’s höflich: Daran fehlt es in unserer derzeitigen Regierung.
Unsere Universitäten sind untote Orte von identitätshuberischen Blasen, von hybrid-korrupten „Drittmittel“-Verwertungen und karrieristischen Intrigen geworden, deren geistige Entleerung den alten und neuen Rechten einen geradezu unbegrenzten Spielraum eröffnet hat. Sie müssen wieder zu offenen Orten der Debatten werden. Und gegen die rechten und marktradikalen Thinktanks müssen neue Foren gegründet werden, wo die alten (wie das Institut für Sozialforschung) ihre Geschichte beenden.
Die Krise der demokratisch-liberalen Mainstream-Medien darf nicht länger mit einem Achselzucken hingenommen werden; der kulturelle Selbstmord, den die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vor aller Augen und Ohren begehen, ist keineswegs mit einem technisch-sozialen Nutzungswechsel zu rechtfertigen, und Zeitschriften und Zeitungen, die vom Print- ins Internetformat wechseln, sind nicht wirklich gezwungen, dies mit einem dramatischen Niveauverlust zu begleiten. Die demokratische Zivilgesellschaft muss neue Finanzierungsformen für ihre Medien finden.
Bauern kommen meist vom Land
Die demokratische Zivilgesellschaft darf sich nicht in die Großstädte zurückziehen. Man ist empört darüber, wie einfach es für die Rechte ist, die Bauernproteste in Europa zu kapern. Aber überall zeigt sich: Die Linke und die ökologische Bewegung haben keine Gegenvorschläge, keine Visionen, keine Solidarität zu bieten. Die Zukunft der Demokratie wird auch auf dem Land entschieden, und darum gilt es, Demokratie und Kultur verstärkt auch in die ländlichen Regionen zu bringen. In manchen dieser Regionen ist die Rechte bereits die absolut hegemoniale Kraft, einfach weil es für die Menschen im Allgemeinen, die Jugendlichen im Besonderen gar keine Alternative gibt.
Es gibt eine „bürgerliche“ Rechte, in der es noch für viele unentschieden ist, ob man sich innerhalb der demokratischen Spielregeln orientiert oder schon mit der antidemokratischen Bewegung paktieren will. Dieser bürgerlichen Rechten darf das „Rumgeeire“ zwischen der Anbiederung nach rechts und der rhetorischen „Brandmauer“ nicht mehr durchgehen. Es mag ein schmerzhafter Prozess sein, aber er ist nicht abzuwenden: Die bürgerliche Rechte muss sich von ihrem antidemokratischen Rand und von ihrer populistischen Rhetorik verabschieden, wenn sie nicht zum Steigbügelhalter eines rechten antidemokratischen Regimes werden will.
Die Debatte um ein Verbot der AfD erscheint derzeit als Spiegelfechterei. Es geht vielmehr um konkrete Schritte, um im politischen und kulturellen Alltag klarzumachen, dass die AfD keine Partei wie die anderen ist. Niemand ist gezwungen, AfD-Mitglieder zu Talkshows oder Filmfestivals einzuladen. Demokratie ist nicht nur ein Regel- und Formelwerk, sondern auch ein lebendiges System mit geistigem Inhalt. Jede demokratische Institution, jede kulturelle Einrichtung soll das Recht haben, antidemokratischen Personen und Organisationen den Zutritt zu verweigern. Gerade darin muss sich die Unabhängigkeit und Integrität dieser Einrichtungen beweisen.
Arrangement is over
Es gibt „diplomatische“ Rücksichten, gewiss. Man muss internationale Politik auch mit jenen treiben, die das demokratische Bündnis verlassen haben. Es gibt aber auch einen Punkt, wo Rücksicht und Interesse in Rückgratlosigkeit und Opportunismus umkippt. Ein Europa, das sich mit immer mehr antidemokratischen und rechten Regierungen arrangieren will, ist der Verteidigung kaum noch wert. Die europäische Idee muss als Demokratieprojekt neu gedacht werden.
Der Kulturkampf, die Propaganda und die Kampagnen der antidemokratischen Organisationen wären in diesem Ausmaß nicht möglich, wenn es nicht eine Finanzierung gäbe. Wer von der antidemokratischen Rechten spricht, darf von der militanten Neoliberalismusfraktion nicht schweigen. Es hilft nichts: Wer an der Erhaltung oder Erneuerung der Demokratie interessiert ist, kommt um ein Nachdenken über den Zustand von Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit nicht herum.
Wenn es etwas Zerstörerisches in dieser Situation gibt, dann ist es ein „Weiter so“. Die Sozialdemokratie, der politische Liberalismus, die Linke, die ökologische Bewegung und das bürgerlich-konservative Lager müssen sich von Grund auf erneuern. Die kritische, offene und demokratische Zivilgesellschaft muss sich aus der selbstverschuldeten Lähmung befreien. Nur dann wird es einen neuen „historischen Kompromiss“ der Demokraten gegen rechts geben. So weit die Hoffnung, die sich bekanntlich nicht niederbrüllen lässt.
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