Zielwert für Entwicklungshilfe: Deutschland rechnet sich hoch
Die Ausgaben für Entwicklungshilfe sind auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens gestiegen – auch dank der Flüchtlingskosten hierzulande.
Entwicklungsexperten und Hilfsorganisation kritisieren allerdings, dass Deutschland sich seine Ausgaben schönrechne. Die Grünen-Fraktion im Bundestag bezeichnete die deutsche ODA-Quote deshalb auch als „Scheinriesen“ und sprach von einem „absurden Zustand“.
Das 0,7-Prozent-Ziel ist schon seit 1970 die anerkannte Messlatte für einen fairen Beitrag in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit. Damals hatte Deutschland eine UN-Resolution angenommen, nach der die Länder nach dieser Zielmarke streben sollten. Über die Jahre hatte die Bundesregierung das Ziel immer wieder bekräftigt.
Insgesamt sind die Ausgaben der 29 Geberländer im OECD-Entwicklungsausschuss 2016 mit rund 143 Milliarden US-Dollar (rund 132 Milliarden Euro) um 8,9 Prozent auf ein Rekordhoch gestiegen. Auf Platz eins der Geldgeber stehen weiterhin die USA, gefolgt von Deutschland, Großbritannien, Japan und Frankreich. Die 0,7-Prozent-Quote übertreffen nur Dänemark, Schweden und Norwegen. Großbritannien liegt mit Deutschland bei genau 0,7.
Diese Zahlen zeigten, dass Deutschland „seiner wachsenden internationalen Verantwortung gerecht“ werde, erklärte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) am Dienstag. Er hatte im März versprochen, dass die 0,7 Prozent bis 2020 zustande kämen. Nun geht es zwar schneller. Aber auch Müller weiß, dass die Quote keine reine Jubelmeldung ist – denn ein wesentlicher Teil der Mittel besteht aus Geldern, die innerhalb Deutschlands etwa für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen eingesetzt werden.
„Aufgeblasenen Hilfe“
Diese Ausgaben machen immerhin rund 25 Prozent der gesamten deutschen ODA-Mittel aus. Ohne sie stünde Deutschland mit einer Quote von 0,52 Prozent deutlich schlechter da. „Auch ohne Flüchtlingszahlen, wie wir sie jetzt in Deutschland zu bewältigen haben, müssen wir das 0,7-Prozent-Ziel auf absehbare Zeit erreichen“, kommentierte der Entwicklungsminister.
„Phantomhilfe“ oder auch „Inflated aid“, übersetzt etwa „aufgeblasene Hilfe“, nennen Nichtregierungsorganisationen diese Art der Rechnung. Die Regeln der OECD gestatten den Industrieländern zwar, bestimmte Flüchtlingskosten im Inland mitzuzählen, und auch andere Staaten wie etwa Schweden profitieren bei ihrer Berechnung davon. Trotzdem steht diese Praxis immer wieder in der Kritik – schließlich werden die Mittel nicht in den Entwicklungsländern ausgegeben.
Deutschland werde „zum größten Empfänger seiner eigenen Entwicklungsausgaben“, bemängelt etwa Renate Bähr, Geschäftsführerin der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW). „Gerade nach der Ankündigung der USA, die Mittel für internationale Familienplanung deutlich zu kürzen, sollte Deutschland mehr in diesen Bereich investieren“, sagt Bähr. Die USA hatten kürzlich die Zahlungen für den UN-Bevölkerungsfonds gestrichen.
Man könne mit der deutschen Quote nicht zufrieden sein, sagte Niema Movassat, Entwicklungsexperte der Linken, der taz: „Der Inhalt ist halt getrickst.“ Das Geld komme schließlich nicht wirklich in den Ländern des globalen Südens an. Auch der entwicklungspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Uwe Kekeritz, und seine Parteikollegin aus dem Haushaltsausschuss, Anja Hajduk, lehnten die Anrechnung der Flüchtlingskosten ab.
Eine Sprecherin des Bundesentwicklungsministeriums wies gegenüber der taz darauf hin, dass Deutschland die Flüchtlingskosten gemäß den OECD-Regeln melde – und dabei mit den angerechneten Kosten pro Flüchtling im Mittelfeld liege. „Somit werden bei Weitem nicht alle in Zusammenhang mit Flüchtlingen entstehenden Kosten als ODA gemeldet.“
„Meine Sorge ist, dass sich eine Selbstzufriedenheit einstellt“, und dringend benötigte Gelder nicht aufgebracht würden, sagte Movassat. Tatsächlich sind es vor allem die ärmsten Länder, die nicht vom generellen Anstieg der Entwicklungshilfe profitieren konnten: Die OECD-Daten von 2016 zeigen, dass die bilateralen Zahlungen für die am wenigsten entwickelten Länder, also die Zahlungen von einem Staat an einen anderen, im Vergleich zum Vorjahr sogar um 3,9 Prozent gefallen sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!