piwik no script img

Zerstörte ukrainische Stadt MariupolDie Stadt lebt im Keller

Tausende versuchen aus der ukrainischen Stadt Mariupol zu fliehen. Auf ihrem Weg landen viele gegen ihren Willen in von Russland besetzten Gebieten.

Anwohner stehen vor einem zerstörten Wohnhaus in Mariupol am 28. März Foto: Alexander Ermochenko/reuters

Dnipro taz | Schon mehr als drei Wochen dauert die Blockade von Mariupol. Tausende Menschen leben ohne Strom, Wasser, Heizung, medizinische Versorgung sowie ohne Telefon und Internet. Sie leben in einem absoluten Informationsvakuum, ohne zu wissen, was gerade in ihrem Land passiert.

Und auch nach mehr als drei Wochen gehen die russischen Luftangriffe auf Mariupol weiter. Die Stadt wird vom Asowschen Meer aus, vom Land und aus der Luft alle dreißig Minuten beschossen. Und es scheint, als ob es in dieser Hölle kein Leben mehr gäbe. Aber das stimmt nicht.

„Wagt es nicht, meine Stadt eine tote Stadt zu nennen. Wagt es nicht zu sagen, dass es kein Mariupol mehr gebe“, sagt etwa Alexei Simonow, Eventmanager aus Mariupol. Die Stadt sehe mit den zerstörten und zerbombten Häusern zwar aus der Luft aus wie eine Wüste, doch es leben noch immer unzählige Menschen in den Kellern der Stadt.

Nach Schätzungen des Stadtrats von Mariupol sind das aktuell noch etwa 160.000 Menschen. Der Bürgermeister Vadim Boitschenko möchte sie alle aus der Stadt evakuieren. Das Problem dabei ist, dass die russischen Besatzer kategorisch dagegen sind, für die Menschen humanitäre Korridore einzurichten. Sie betreiben eine Politik der systematischen Vernichtung der Zivilbevölkerung.

Zerschossene Autos

„Wir sind unter Beschuss entkommen“, erzählt die Bewohnerin Anna Drobot. Es gab keinerlei „grüne Korridore“. Vor ihrer Flucht musste sie noch Freunde abholen. Aber neben einem Laden war eine Panzerschlacht. Sie ist dann in den Hof gerannt und ihre Freunde schrien: „Wo willst du hin? Lauf zurück! Sie bringen dich um.“ Dann ist sie gefallen und wurde auf den Asphalt gedrückt.

„Noch nie im Leben hatte ich solch schreckliche Angst. Ich habe mich vom Leben verabschiedet und dachte wirklich, das sei jetzt das Ende. Dann habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und bin geduckt zum Auto zurückgelaufen. Wir beeilten uns, aus der Stadt hinauszukommen. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Wir fuhren, und entlang der Straßen standen die zerschossenen Autos“, sagt sie.

So sieht also aktuell die Evakuierung der Bevölkerung aus Mariupol aus. Die russischen Besatzer blockieren die Evakuierungsbusse, die von den ukrainischen Behörden bereitgestellt wurden. Und weil es kaum intakte, nicht zerbombte Autos in der Stadt gibt, läuft das jetzt so ab: Tausende Menschen laufen in einer Reihe zu Fuß aus der Stadt hinaus. Einige müssen 80 Kilometer bis Berdjansk zu Fuß zurücklegen, wo sie die Möglichkeit haben, in ukrainische Evakuierungsbusse zu steigen. Die Menschen gehen zwei Tage zu Fuß. Und dann fahren sie noch mal einen Tag bis in das von der Ukraine kontrollierte Saporischschja. Drei Tage für eine Strecke, für die man früher sonst 2,5 Stunden gebraucht hat.

Russland blockiert absichtlich die Kolonnen auf dem Weg nach Saporischschja. In den letzten drei Ta­gen h­aben die Besatzer abgelehnt, die Menschen tagsüber nach Tokmak, einer Kleinstadt im Gebiet Saporischschja, zu lassen. Die erschöpften, hungrigen Menschen stehen acht bis zehn Stunden auf der Straße, und erst am Abend dürfen sie weiter.

Russisches Truppen auf dem Weg nach Mariupol am 28. März Foto: Alexander Ermochenko/reuters

„Als wir in Berdjansk in die ukrainischen Busse stiegen, haben die russischen Posten uns zu überreden versucht, nicht nach Saporischschja zu fahren. Sie wollten uns überzeugen, lieber nach Melitopol zu fahren oder in Tokmak zu bleiben. Sie sagten, dass man nicht in die West­ukra­ine fahren solle, das sei zu gefährlich. Wir haben natürlich nicht auf sie gehört“, sagt Alexander G., der Mariupol am 17. März verlassen hat.

Eine andere Bewohnerin, Ekaterina A., erzählt: „Mein Bruder steckt in Schwierigkeiten. Sie haben ihn getäuscht und nach Russland gebracht.“ Ihr Bruder ist am 23. März in Mikrorayon, einem Wohngebiet am Stadtrand von Mariupol, in einen Bus gestiegen. Auf dem Bus war ein Schild mit der Aufschrift „Saporischschja“. Also ist er eingestiegen. Er wurde in das besetzte Nikolske, einen Ort in der Region Donezk, gebracht. Und dort sagte man ihm: „Der Bus fährt nach Taganrog“, eine russische Hafenstadt östlich von Mariupol.

Von Mariupol nach Sibirien

„Mein Bruder hat sich natürlich erschrocken, aber dachte, er könne von dort irgendwie in die Ukraine zurückkommen. Erst auf der anderen Seite der Grenze hat man ihnen gesagt, dass Taganrog keine ukrainischen Geflüchteten aufnimmt, und man sie deshalb nach Tomsk (Stadt in Sibirien; d. Redaktion) bringe. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Das ist einfach nur schrecklich. Das ist eine Entführung!“, sagt Ekaterina A.

Nach Angaben des ukrainischen Außenministeriums haben die russischen Besatzer rund 40.000 Ukrainer gewaltsam außer Landes gebracht. Ungefähr die Hälfte von ihnen stammt aus Mariupol. Am letzten Samstag gab es in Mariupol einen ähnlichen Vorfall. Die Besatzer kamen auf das Gelände eines städtischen Krankenhauses, haben das gesamte medizinische Personal und die Patienten in ihre Fahrzeuge geladen und sind in unbekannter Richtung verschwunden.

Und diesen Montag hat der Propaganda-TV-Sender Union, der in dem besetzten Gebiet Donezk schon seit 2014 auf Sendung ist, einen Jungen gezeigt, der Patient in dem Mariupoler Krankenhaus war. Nur deshalb kann man überhaupt wissen, wohin die Ärzte und Patienten gebracht wurden. Der Junge ist Waise. Seine Mutter starb durch Raketensplitter, und auch der Junge selbst wurde schwer verwundet. Und genau diese Leute, die seine Mutter umgebracht haben, haben jetzt die Chuzpe, ihm Fragen zu dieser Tragödie zu stellen.

Laut der ukrainischen Ombudsfrau für Menschenrechte, Ludmila Denisowa, wurden seit Kriegsbeginn mehr als zweitausend Kinder von Russland entführt und in russisches Staatsgebiet gebracht. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Es ist auch nicht mehr der geringste Rest von Menschenr(rechts)verhalten durch Putin und seine Helfer vorhanden: Flucht verweigern, Hilfskonvois überfallen, Zivilisten entführen, Rotes Kreuz ignorieren, Reporter hinrichten, Scheinhinrichtungen veranstalten …..



    Nicht nur die Abstellung der Heizung lässt ununterbrochen frieren.



    Und da gibt es noch Menschen, die sich hier an anderer Stelle über „Missgriffe der Ukrainer“ echauffierten.

    • @snowgoose:

      Der russische Überfall ist die reinste Barbarei, mir fällt einfach kein anderes Wort dafür ein. Meine Großmutter ist Ukrainerin, mein Großvater Russe, für mich ist diese Barbarei eine persönliche Katastrophe. Und ist das NUR Putin, marschiert Putin ALLEINE durch die Ukraine? So lange der russische Durchschnittsbürger nicht begreift, dass er Teil eines Aggressor-Volkes ist, eine entsprechende Entputinisierung stattfindet, wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, kann es keinen Neuanfang und Vertrauen geben.

      • @Leningrad:

        Ich fühle mit ihnen. Ich muss mich echt wappnen, um die täglichen neuen Schreckensmeldungen anzusehen und schäme mich meiner Tränen nicht.



        Es ist so unfass- unvorstellbar, wenn man daran denkt, dass die Menschen vor zwei Monaten ein normales Leben hatten und den Freuden des Frühlings entgegen blickten.