Zeitschrift über Gräuel der Nazis: Augenzeugen berichten
Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten osteuropäische Juden eine Zeitschrift, die Nazi-Gräuel dokumentierte. Jetzt ist sie auf Deutsch erschienen.
„Lasst uns schweigen, weiter schweigen,
und kein Wort geredet;
lasst uns mit geschlossenen Augen
murmeln ein Gebet.
Nicht die Zäune, nicht die Drähte,
nicht die Wache, die fort steht –
keiner kann es uns verbieten
zu weinen in Still’ und Einsamkeit.“
Diesen Anfang eines fünfstrophigen Texts zu einem Lied hat eine Jüdin oder ein Jude aus Estland verfasst. Er beschreibt die verzweifelte Lage der inhaftierten Menschen in irgendeinem der Hunderten Nazilager in Osteuropa. Ob die oder der anonyme VerfasserIn den Holocaust überlebt hat, wissen wir nicht.
Doch der Text blieb anderen Juden im Gedächtnis. So konnte das Gedicht 1946 in der amerikanischen Zone Deutschlands zum ersten Mal veröffentlicht werden. Es findet sich in der nun erstmals ins Deutsche übersetzten Sammlung einer bemerkenswerten Zeitschrift mit dem jiddischen Namen Fun letstn churbn – Von der letzten Zerstörung. Insgesamt sind zehn Nummern dieses von Überlebenden herausgegebenen und gemachten Blatts erschienen, die letzte datiert vom Dezember 1948.
Frank Beer und Markus Roth (Hg.): „Von der letzten Zerstörung“. Metropol Verlag, Berlin 2021, 1032 Seiten, 49 Euro
Tausende osteuropäische Juden hatten 1945 die Befreiung in einem der Lager auf deutschem Boden erlebt. Zehntausende weitere machten sich bald darauf auf den Weg ausgerechnet in das Land ihrer Mörder. In ihrer Heimat gab es nichts mehr, was sie noch halten konnte, keine Familienangehörigen, keine Wohnung, keinen Besitz, doch dafür häufig antisemitische Anfeindungen der christlichen Nachbarn, die sich längst dort eingerichtet hatten, wohin die Überlebenden zurückzukehren beabsichtigt hatten.
Das besetzte Deutschland dagegen, namentlich die US-Zone in Bayern, bot die Vision eines Neuanfangs – in Palästina/Israel, den Vereinigten Staaten, Australien oder einem anderen Land, fernab der Killing Fields Osteuropas. Anfangs waren die Aussichten unklar und vage, doch das genügte den Menschen, um in die Lager der jüdischen Displaced Persons zu strömen, in die Landeshauptstadt München oder nach Cham, Tirschenreuth oder Schwandorf im Osten Bayerns. So entstanden in kurzer Zeit Dutzende Exilgemeinschaften, wartend auf eine neue Heimat.
Bitten um Material über die Verfolgung
Nicht warten sollte die Dokumentation des gerade erst während der NS-Verfolgung Erlittenen. Israel Kaplan, ein Historiker aus Riga und selbst dem Mord entronnen, erkannte die Notwendigkeit, die Augenzeugenberichte zu sammeln, bevor die Überlebenden in alle Herren Länder zerstieben. Im November 1945 war eine Historische Kommission beim Zentralkomitee der befreiten Juden in der US-Zone gegründet worden.
Immer wieder forderte Kaplan die Menschen in der Zeitung Undzer Weg auf, Material über die Verfolgung zur Verfügung zu stellen. Schließlich gelang es ihm mit dem jüdisch-polnischen Buchhalter Moysche Faygenbogen, im August 1946 die Zeitschrift Fun letstn churbn zu gründen.
Den Begriff „Holocaust“ gab es da noch nicht. Das Interesse der Deutschen war mehr als gering. Der Massenmord an den Juden war auch kein Aufgabengebiet von Historikern, sondern allenfalls von alliierten Juristen, die die Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher führten. Von der letzten Zerstörung sollte die Mordtaten dokumentieren, im Interesse des jüdischen Gedächtnisses.
Subjektive Berichte, ungeordnet
„Wir versteckten uns im Bunker. Wir lagen dort in großer Enge, und es gab kaum Luft zum Atmen. Es war sehr heiß, so dass alle ihre Kleider ausziehen mussten. Wir lagen dort mehrere Tage lang, bis die Deutschen uns entdeckten. Sie kamen in den Keller und fingen an zu schreien: ‚Alles raus!‘ Doch keiner antwortete ihnen. So warfen sie eine Handgranate.“
Dieser Bericht aus dem Ghetto in Kaunas stammt von Jakob Levin, Jahrgang 1932, und erschien in der Nummer 5 der Zeitschrift. Die Inhalte entsprachen nicht dem damaligen wissenschaftlichen Verständnis, denn das Blatt dokumentierte subjektive Berichte, ohne sie einzuordnen.
Es kamen gar Kinder wie Levin zu Wort, es wurden Gedichte gesammelt, Ausdrücke aus den Lagern, ja sogar Lieder, die man auf Wachsschallplatten presste. Heute erscheint diese Vorgehensweise hochmodern, denn Kaplan und Faygenbogen gelang es, das Geschehen aus dem Blickwinkel der Augenzeugen der Katastrophe festzuhalten und damit Einblicke in deren Alltag zu bieten.
2.536 Zeugenberichte
Von der letzten Zerstörung war mehr als eine Zeitschrift, es war ein Projekt. Die Aktivisten sammelten neben Augenzeugenberichten, Liedern und Gedichten auch Fotos, Befehle und Schriftstücke der Nazis, alltägliches Furchtbares, und längst nicht alles davon wurde gedruckt. Unmittelbar nach dem Krieg war es unmöglich, dieses Konvolut zu ordnen und in sinnvolle Unterkapitel zu gliedern. Auch fällt auf, dass sehr viele der Berichte aus Polen und dem Baltikum stammen, was zum Teil der Herkunft der Herausgeber geschuldet sein könnte.
Am Ende hatte die Zentrale Historische Kommission gesammelt: 2.536 Zeugenberichte, 284 Lieder, Folklore und Gedichte, 1.081 Fotos, 1.932 Dokumente aus der Kriegs-, 176 aus der Vorkriegs- und 1.732 aus der Nachkriegszeit, ferner Filme, Bücher, museale Gegenstände und 423 Kinder-Fragebögen. All das Material ging an die Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem. Die Kommission aber löste sich auf, weil deren Mitglieder nach langer Wartezeit endlich in eine neue Heimat aufbrechen konnten.
Dieses Material hat sich der Forschung und Publikation nur begrenzt erschlossen, weil es zum größten Teil auf Jiddisch in hebräischen Lettern verfasst worden ist, einer Sprache, die kaum mehr verwendet wird. Umso verdienstvoller ist es, dass Von der letzten Zerstörung endlich, nach mehr als 70 Jahren, in einer sorgfältig editierten deutschen Ausgabe vorliegt.
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