Buch über vertriebene Juden: Das Schtetl in Oberbayern

Alois Bergers Buch „Föhrenwald“ erzählt eine ganz andere Heimatgeschichte. Sie handelt von vertriebenen Juden in einer Siedlung südlich von München.

Eine Person steht vor der Tür eines Reihenhauses

Das ehemalige Lager für „Displaced Persons“ in Föhrenwald ca 1956 Foto: KNA

Beim Stichwort Oberbayern mögen die meisten Menschen an hügeliges Voralpenland, sattgrüne Wiesen mit Rindviechern darauf und in der Sonne glitzernde Seen denken, vielleicht noch ans schneebedeckte Hochgebirge. Die Ortsbezeichnung Wolfratshausen könnte man mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber assoziieren, der dort zu Hause ist, vielleicht noch an das berühmte Frühstück im Jahr 2002 mit Angela Merkel dortselbst denken, bei dem die CDU-Chefin ihren Verzicht auf die Kanzlerkandidatur zugunsten von Stoiber erklärte.

Aber ganz gewiss werden die wenigsten Menschen dabei an Jüdinnen und Juden denken.

Alois Berger kommt aus Wolfratshausen. Der Journalist hat sich auf die verdrängten Spuren in seiner Heimat begeben, auf die Spuren dessen, was lange nicht ausgesprochen worden ist. Es geht dabei nicht um die Ortsgeschichte einer kleinen deutschen jüdischen Gemeinde, sondern um etwas viel Größeres. Denn unmittelbar bei Wolfratshausen bestand nach Krieg und Holocaust eine jüdische Siedlung, ja fast eine Stadt: Föhrenwald.

Die ersten Überlebenden, die in der während der NS-Zeit erbauten Siedlung für Fabrikarbeiter einzogen, waren Menschen, die den Todesmarsch aus dem KZ Dachau überlebt hatten. Aber bald kamen mehr – Jüdinnen und Juden, die die Shoah versteckt in Osteuropa überstanden hatten, und solche, die bis in den unbesetzten Teil der Sowjetunion ausgewichen waren. Solche, die Haft und KZ überstanden hatten.

Alois Berger: „Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-­jüdischer Nachkriegsgeschichte“. Piper Verlag 2023, 237 Seiten, 24 Euro

In ihrer alten Heimat waren sie nicht mehr erwünscht, dort hatten längst christliche Nachbarn ihre Wohnungen okkupiert und gedachten dort nicht auszuziehen. Freunde und Verwandte waren tot. Die Überlebenden waren auf der Suche nach einer neuen Heimat – Eretz Israel, die USA, Australien …

Ein guter Startpunkt

Ausgerechnet das von den Alliierten besetzte Deutschland schien dafür ein guter Startpunkt zu sein, und da wiederum das amerikanisch besetzte Bayern. So machten sich bald Hunderttausende auf den Weg nach Deutschland, nicht um dort zu leben, sondern um es als Sprungbrett für die ersehnte neue Heimat zu nutzen.

Mehr als 5.000 von ihnen landeten in Föhrenwald.

Die US-Amerikaner hatten bald verstanden, dass diese Menschen nicht zusammen mit den Displaced Persons aus anderen Nationen in einem Lager zusammenleben konnten. Ein KZ-Häftling neben einem ehemaligen Bewacher, das ging einfach nicht. Deshalb entstand eine ganze Reihe von DP-Lagern exklusiv für die Jüdinnen und Juden. Föhrenwald war eines von ihnen – und es war das letzte seiner Art, geschlossen erst im Jahr 1957.

Ort der verletzten Seelen

Alois Berger geht den Spuren Föhrenwalds nach. Er hat mit heute älteren Menschen gesprochen, die damals als Kinder dort aufwuchsen, zeichnet das Leben im Lager nach, die Selbstverwaltung, aber auch den Konflikt zwischen den Strenggläubigen auf der einen und den zionistisch Gesinnten auf der anderen Seite. Auch wenn die Kinder von damals die Siedlung als einen großen Spielplatz in Erinnerung haben: Föhrenwald war ein Ort der verletzten Seelen, die um ihre Angehörigen trauerten und doch wild entschlossen zu neuem Leben waren.

Nicht allen gelang der Absprung. Wer zu krank war, gar unter Tuberkulose litt, konnte auch nach der Gründung des Staates nicht so einfach nach Israel auswandern, und auch andere Länder verschlossen ihnen die Tore. Sie blieben in Föhrenwald hängen. Hinzu kamen Personen, die in der neuen Heimat kein Glück gehabt hatten und nun in das oberbayerische Schtetl zurückkehrten, sehr zum Missfallen der bundesdeutschen Behörden.

Alois Berger, geboren im Jahr der Schließung von Föhrenwald, hat dabei auch ein ganz besonderes Heimatbuch geschrieben. Er erzählt von der Sprachlosigkeit der bayerischen Bewohner in Föhrenwalds Umgebung in seinen Kindheitstagen, davon, dass niemand darüber berichten wollte, dass wenige Jahre zuvor dort Jüdinnen und Juden gelebt hatten.

Föhrenwald blieb ein Geheimnis für Eingeweihte, über das man nicht sprach. Berger, selbst streng katholisch als Sohn eines Bäckers aufgewachsen, hat einen seiner ehemaligen Lehrer besucht und ihn gefragt, woran das gelegen haben mag, er fragt ehemalige Mitschüler.

Schweigen aus Scham

Da werden keine Altnazis entdeckt und auch keine neuen. Die Wolfratshauser wussten sehr wohl, was sie und alle Deutschen bis 1945 angerichtet hatten, trotz ihres katholischen Glaubens. Sie schwiegen aus Scham in der Hoffnung auf ein Vergessen.

So verschwand Föhrenwald aus der Geschichte. Die Siedlung wurde nach dem Wegzug der letzten jüdischen Bewohner in Waldram umbenannt und beherbergte fortan fromme Katholiken.

Und wenn es nicht Menschen gäbe, die dort nach einigem Widerstand an das jüdische Föhrenwald erinnern würden und solche wie Alois Berger, die das alles aufschreiben, dann gäbe es diese Geschichte nicht mehr.

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