Zehn Jahre Arabischer Frühling: Ins Rollen gekommen
Im arabischen Raum sind Autokraten und Herrschereliten unter Druck geraten. Viele stürzten, andere bekämpften die Bevölkerung. Ein Überblick.
In Nahost und Nordafrika ist politisch nichts mehr wie vor zehn Jahren. Sechs Diktatoren wurden seit Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings im Dezember 2010 nach Massenprotesten gestürzt, etliche Regierungen zum Rücktritt gezwungen. Doch kein Land gleicht dem anderen, hier der Überblick:
Die Vorreiter
Das politische Vorzeigeland des Arabischen Frühlings ist bis heute Tunesien. Auf den Januar 2011 nach Massenprotesten gestürzten Zine El Abidine Ben Ali folgte kein neuer Diktator. Stattdessen wurde das System durch eine fehleranfällige, aber institutionell funktionierende Demokratie ersetzt.
Zuletzt wurde im Oktober 2019 der Jurist Kaïs Saïed zum Präsidenten gewählt. Die Islamisten der Partei Ennahda haben sich in den demokratischen Prozess einbinden lassen und halten sich an die Spielregeln. Dennoch: Die Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben haben sich nicht erfüllt, die Wirtschaft liegt am Boden. (Lesen Sie hier unsere Reportage aus dem ländlichen Tunesien)
Riesenhoffnung, dann große Ernüchterung: So lautet das aktuelle Fazit der Revolution in Ägypten. Auf den Rücktritt des Diktators Husni Mubarak im Februar 2011 nach wochenlangen Massenprotesten, die direkt nach dem Umsturz in Tunesien begonnen hatten, folgte eine demokratische Öffnung mit freien Wahlen. Diese brachten 2012 die Muslimbrüder unter Mohammed Mursi in die Regierung, wenn auch nicht wirklich an die Macht.
Das Militär unter Abdel Fattah al-Sisi putschte sich 2013 zurück an die Staatsspitze, nachdem es zu neuen Massenprotesten gekommen war, diesmal gegen den frei gewählten Mursi. Heute regiert al-Sisi mindestens so autoritär wie einst Mubarak. Islamist*innen, Aktivist*innen und Journalist*innen sitzen im Gefängnis; meist lautet der Vorwurf „Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe“ oder „Verbreitung falscher Nachrichten“.
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Die Bremser
Das Regime in Saudi-Arabien hat sich als entschiedener Gegenspieler der revolutionären Kräfte positioniert – nicht nur im eigenen Land, sondern in der gesamten Region. Im Inland hat Kronprinz Mohammed bin Salman zwar gesellschaftliche Reformen eingeleitet, politische Mitsprache duldet er aber nicht.
Im arabischen Ausland unterstützt er aktiv die Konterrevolution: In Sudan sagte Saudi-Arabien – zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten – den Vertretern des Militärs Unterstützung zu und schnürte ein Hilfspaket, an Demokratisierung unter einer zivilen Führung zeigen die Golfmonarchen aber keinerlei Interesse.
Das hatte sich schon weiter nördlich am Nil gezeigt: Auch Ägyptens restauriertes Militärregime genießt volle Unterstützung aus Riad. Es gibt sogar starke Hinweise darauf, dass die Saudis – wieder zusammen mit den Emiraten – die ägyptische Protestbewegung Tamarrod finanzierten, die 2013 dem Militär den Vorwand lieferte, die Macht wieder an sich zu reißen. Tamarrod hatte der Diktatur al-Sisis zumindest anfänglich einen Hauch von Legitimität verliehen.
Auch in Bahrain, das 2011 als einziger Golfstaat eine für die Herrscherfamilie gefährliche Protestwelle erlebte, ist keine weitere Revolte in Sicht. Warum der Aufstand damals scheiterte? Saudi-Arabien hatte Truppen ins Nachbarland geschickt, die die Proteste gewaltsam niederschlugen. Damit war klar: In den Monarchien der Arabischen Halbinsel wird jeglicher Protest schon im Keim erstickt.
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Die Spätzünder
Das Jahr 2019 brachte eine zweite Welle des Arabischen Frühlings mit sich. In Sudan brachten monatelange Massenproteste im April den langjährigen Diktator Omar al-Bashir zu Fall. Zivile Kräfte und Militär führen nun gemeinsam eine Übergangsregierung, mit Abdel Fattah al-Burhan als Übergangspräsidenten und Abdallah Hamdok als Premierminister. Die Regierung versucht die bewaffneten Konflikte Sudans zu befrieden und die katastrophale Wirtschaftslage zu verbessern, und sie soll Wahlen für das Jahr 2022 vorbereiten.
Fast gleichzeitig brachten die Massen auch in Algerien den Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika zu Fall. Im Dezember 2019 wurde Abdelmadjid Tebboune zum neuen Staatschef gewählt, der allerdings als Vertreter des alten Regimes gilt. Grundlegende politische Reformen, wie die Protestbewegung Hirak sie fordert, sind ausgeblieben. Auch die Menschenrechtslage bleibt katastrophal.
Auch in Libanon und in Irak rumort es. Beide leiden nicht unter einer klassischen Diktatur, sondern unter einem komplizierten Geflecht aus korrupten und stark konfessionell geprägten Politikereliten, die politischen und ökonomischen Stillstand produzieren. In Libanon folgte 2019 auf Massenproteste der Rücktritt der Regierung, doch derzeit sieht es so aus, als würde sich die alte Clique mit teils neuen Gesichtern in der ersten Reihe an der Macht halten. Selbst die Riesenexplosion im Hafen von Beirut im August leitete keinen Wandel ein. (Lesen Sie hier ein Porträt einer Aktivistin in Libanon)
In Irak hat sich, seit die USA 2003 Saddam Hussein stürzten und das Land besetzten, kein neuer Diktator etabliert. Der Staat stand am Rande des Zerfalls: Im Norden regiert eine kurdische Autonomieregierung, im Zentrum nutzten Dschihadisten die Instabilität und der „Islamische Staat“ (IS) machte sich breit. Die Zentralregierung bleibt schwach und steht unter dem Druck Irans. 2019 kam es zu Massenprotesten, ohne politische Folgen.
Die Kriegsländer
In drei Ländern hat der anfänglich friedliche Protest zu Kriegen mit Hunderttausenden Toten geführt. Libyen war 2011 nach dem Umsturz in Tunesien und Ägypten das dritte nordafrikanische Land, dessen Diktator unter Druck der Straße kam. Aber Muammar al-Gaddafi schlug anders als Ben Ali und Mubarak sofort mit Gewalt zurück, die Opposition organisierte sich militärisch.
Nato-Unterstützung führte zwar die Rebellen ab August 2011 an die Macht und Gaddafi wurde bei Kämpfen getötet, doch seitdem ist das Land zwischen rivalisierenden Machtzentren in West und Ost gespalten. 2019 spitzte sich der Bürgerkrieg zu, ausländische Mächte griffen ein. Derzeit schweigen die Waffen.
In Jemen spielt sich der Hauptkonflikt zwischen Huthi-Rebellen und der aus Sanaa nach Südjemen vertriebenen Regierung von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi ab. Erstere genießen Unterstützung aus Iran, während für die Regierung Hadi eine Militärallianz unter saudischer Führung Krieg führt. Aber im Süden wollen Separatisten das alte Südjemen wiedergründen; sie werden von den Emiraten unterstützt. Jemens Diktator Ali Abdullah Saleh wurde zu Beginn des Kriegs gestürzt und später getötet.
Bleibt Syrien: Hier gab es nach dem Umsturz in Tunesien und Ägypten im Jahr 2011 ebenfalls Massenproteste, ebenso wie in Libyen schlug Diktator Baschar al-Assad mit brutaler Gewalt zurück, aber anders als in Libyen schauten Europa und die USA in Syrien zu, als die Protestbewegung zerschlagen wurde und in zahlreiche bewaffnete Gruppen zerfiel.
Nach Hunderttausenden Toten griff Russland ab 2015 mit Truppen und Kampfjets ein und wendete einen Sturz des Regimes Assad ab. Momentan sieht es so aus, als würde Syrien zwar als Staat erhalten bleiben, das russisch-iranisch unterstützte Folterregime Assads aber nicht loswerden. Die Hälfte der Bevölkerung ist inner- oder außerhalb des Landes auf der Flucht.
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