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5 Jahre nach dem Attentat von HanauErinnern als leere Geste

Yağmur Ekim Çay
Kommentar von Yağmur Ekim Çay

Vor fünf Jahren ermordete ein Rassist neun Menschen in Hanau. Fünf Jahre, in denen viel versäumt wurde und die Hinterbliebenen alleingelassen wurden.

Graffiti in Frankfurt am Main zum Gedenken an die Opfes des Mordanschlags in Hanau Foto: Peter Jülich/imago

F ünf Jahre ist es her, dass eine psychisch kranke, rechtsextreme Person, die den Behörden bereits bekannt war, trotz schwerwiegender Warnzeichen weiterhin Waffen besitzen und damit Menschen ermorden konnte. Fünf Jahre ist es her, dass jahrelange Probleme bei der Polizei-Notrufstelle offenkundig wurden – und dennoch konnte Vili Viorel Păun in seiner Verzweiflung die Polizei nicht erreichen. Und fünf Jahre ist es her, dass Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović durch eine Notausgangstür hätten fliehen können, doch diese Tür war verschlossen, und niemand hatte gehandelt.

Fünf Jahre ist es her, dass ein 43-jähriger Deutscher in Hanau neun Menschen erschoss, und nun droht die Verjährung. Fünf Jahre hatten die Behörden Zeit, die Vorgänge vollständig aufzuarbeiten. In diesen fünf Jahren hatten die Behörden genügend Zeit, Verantwortung zu übernehmen – doch sie ließen sie ungenutzt verstreichen.

Nicht einmal eine Entschuldigung der Verantwortlichen wurde den Betroffenen zuteil: weder vom hessischen Innenminister Peter Beuth noch vom damaligen Polizeipräsidenten von Südosthessen, Roland Ullmann, oder dem Polizeidirektor im Main-Kinzig-Kreis, Jürgen Fehler.

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Statt zu trauern, mussten Angehörige und Überlebende kämpfen. Sie leisteten die Arbeit, die Behörden versäumten: eigene Ermittlungen, die Aufdeckung struktureller Probleme, das Benennen institutionellen Versagens. Sie suchten nach Spuren, forderten umfassende Ermittlungen und kämpften und kämpfen unermüdlich um Aufmerksamkeit – damit die Taten nicht in Vergessenheit geraten. Doch wieder einmal scheint das Interesse in Deutschland gering zu sein, sobald es um rechtsextreme Gewalt geht.

Für die Angehörigen ist seit fünf Jahren klar: „Die AfD hat mitgeschossen.“ Denn genau deren Framing – das Gerede von „kriminellen Ausländern“ und „kriminellen Shisha-Bars“ – hat den Boden bereitet, auf dem solche Taten überhaupt erst entstehen konnten. Und es war der Täter von Hanau, der sich kurz vor dem Anschlag Reden von Björn Höcke, der AfD-Landtagsfraktion und Martin Sellner anschaute.

Heute, fünf Jahre später, sind die „Remigrations“-Fantasien eines Martin Sellner längst in der politischen Mitte angekommen – sie gelten inzwischen als salonfähig und finden immer mehr Akzeptanz in der Gesellschaft. Die AfD ist längst ein regelmäßiger Gast in Talkshows, und die vielbeschworene Brandmauer gegen rechts scheint es kaum noch zu geben.

Erinnern heißt verändern – das forderten die Überlebenden und Opferangehörigen des Anschlags in Hanau. Doch geschehen ist bisher nur wenig. Denn ohne konsequente Aufarbeitung, ohne Verantwortung derjenigen, die versagt haben – seien es Behörden oder Po­li­ti­ke­r*in­nen –, bleibt das Erinnern, wie es am heutigen Tag in Hanau gemacht wird, eine leere Geste.

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Yağmur Ekim Çay
Korrespondentin
taz-Korrespondentin für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Davor Reporterin bei der Frankfurter Rundschau.
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9 Kommentare

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  • Nachtrag abgesehen von all dem, diese unnötigen nichts bringenden Demos kosten wieder ein Haufen Geld was uns Steuerzahler zu Lasten geht. Und dann heulen alle wieder wo gehen unsere Steuergelder. Diese Doppelmoral hier in Deutschland.... immer wieder schockierend

  • Fünf Jahre ist es her, dass ein 43-jähriger Deutscher in Hanau neun Menschen erschoss,..

    Der Mensch hat sogar 10 Menschen erschossen und anschließend sich selbst - bitte richtigstellen, ich finde es nicht gut wenn solch ein Verbrechen verharmlost wird.

  • Blöde Frage: Warum dauert die "Aufarbeitung", dh die Erstellung eines Berichts über Abläufe, Massnahmen zur Tatzeit, Versäumnisse, Fehler eigentlich 5 Jahre? Ein Jahr sollte mehr als genug sein.



    Man kann nicht umhin, dass da auf den Effekt bei der Wahrnehmung solcher Berichte gesetzt wurde: ach ja, damals war da was, aber es ist schon lange her....Und die allgemeine (!) Aufregung über Fehler ist entsprechend gedämpft.



    Da man um einen Bericht wohl nicht herum kam, scheint die Devise gewesen zu sein: Kümmer dich mal drum, das zusammenzustellen, wenn du Zeit hast. Eilt aber nicht.

  • Wer sich an 'Hanau' erinnert und ein klein wenig nachdenkt, muss sich doch fragen, was die zuletzt wieder viel beschworene Wertegemeinschaft - der Zusammenhalt unserer Gesellschaft und ihre ganze Solidarität - eigentlich



    wirklich "wert" ist. Und wir sollten uns von daher auch ehrlich fragen, ob wir wirklich guten Gewissens die drohende Meinungsführerschaft von denjenigen als demokratisch legitimiert hinzunehmen bereit sind, die uns suggerieren, die Morde von Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg - und Hanau! - hätten ihre Ursache im "Zustrom" von Menschen...

  • Was sollten den die Behörden aus Sicht der Autorin machen? Sollen Strafverfahren aus politisch motivierten Gründen eingeleitet werden, um weitere Ermittlungen vorzunehmen obwohl die Voraussetzungen hierfür überhaupt nicht vorliegen?

    Die Staatsanwaltschaft hat sowohl die Frage des Polizeinotrufes als auch den Sachverhalt um den Notausganbg geprüft und das Ergebnis ist juristisch nicht zu beanstanden. Poltisch mag das anders sein, nur hat das nicht die Staatsanwaltschaft zu interessieren.

  • Das hat ja leider Tradition in D.



    Was war das ein Aufwand bei der Suche nach RAF Terroristen. Wer das Pech hatte, einem der Terroristen auch nur entfernt ähnlich zu sehen und dann evtl. noch ein ähnliches Auto zu fahren, für den wurde eine Polizeikontrolle schon mal gefährlich.



    Beim NSU: da wurde die Community der Opfer drangsaliert.



    Der Unterschied:



    die Opfer der RAF waren Deutsche mit Macht und Geld.



    Der NSU tötete Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin. Nicht so wichtig?



    Wäre Wohlleben auch aus dem Gerichtssaal spaziert, wenn er das Gleiche im Kontext der RAF getan hätte? Vermutl. wäre er für 15 Jahre in den Knast gekommen. Wo er hingehört.



    Recht zu bekommen in D hat anscheinend etwas mit Herkunft zu tun.

    • @Squirrel:

      Es sei an das Buch Hitlers Kinder von Jilan Becker aus GB erinnert, die in den 70' er Jahren die Gewalt der RAF in Bezug auf die NS-Verbrechen der Elterngeneration psychoanalytisch und religionstheoretisch erklärte und dem späteren Faktenchecker Stefan Aust in der Analyse weit überlegen war.

      Zitat aus Rezension

      zeithistorische-fo...n.de/1-2-2007/4677

      Zugespitzt gesagt, waren die Terroristen durchaus „Hitlers Kinder“ - im Sinne von Kindern der nationalsozialistischen Zeit, welche sie in ihrer frühkindlichen Entwicklung umgeben und offenbar in vielerlei Hinsicht geprägt hatte. Zitat Ende

      Demnach ist der Hanau-Mörder Enkel der Massenmördergeneration der Nazis, die in den siebziger Jahren noch flächendeckend in allen Institutionen der "aufgeklärten" BRD vorhanden war, ohne dass dieses kritisch hinterfragt wurde.



      Deutsche Gerichte stellen sich bis heute kaum der Nazivergangenheit der Justiz in der BRD.



      Nach der Wende drängte das kollektive Unbewusste mit Aktivitäten der Neonazis an die Oberfläche, was unzählige Verbrechen der Neonazis zur Folge hatte, die heute mit der Neuen Rechten und der AFD mitten in der Gesellschaft ( auch Justiz, Polizei) angekommen sind.

  • Und noch eine kleine Ergänzung: Julia von Heinz, die sich in ihrem Film „Treasure“ mit der Shoa in Polen auseinandersetzte, sagte sie wolle die deutsche Erinnerungskultur mit ihrem Film verteidigen und beklagte auf 3 sat bitter, eine wirkliche persönliche Auseinandersetzung mit der Shoa habe es in Deutschland nie gegeben, "Gleich Null!! rief sie erbost.

    Wenn also Rechtsextreme in Deutschland so viel Erfolg bis in die Mitte der Gesellschaft haben und die Opfer von Hanau oder andere mutmaßlichen staatliche Verbrechen (Oury Shallo) vom Staat nicht aufgeklärt werden, weil der Wille dazu nicht da ist, sollte die lange rechtsextreme Verbrechensfolge bis Hanau und das damit zusammenhängende staatliche Versagen Stoff für viele Filme in der ARD oder dem ZDF sein, um zu begreifen, dass das zutiefst Böse in allen Schichten der Gesellschaft schlummert und nur darauf wartet aktiv zu werden.

    Ein Gedenkzentrum für die Opfer von Hanau zu bauen, ohne dem von Heinz beklagten gesellschaftlichen Versagen in Bezug auf die persönliche Auseinandersetzung mit der Shoa in Deutschland nachzugehen, wäre geradezu obzön.

  • Danke für diesen klugen Kommentar! Die mangelhafte juristische Aufarbeitung rechtsextremer Verbrechen wie ist sie zu erklären? Lange gab es den diskriminierenden Spruch " das sind ja italienische Verhältnisse". Richtig ist, dass "deutsche Verhältnisse" in dem Zusammenhang ein mehr als schräges Licht auf deutsche Behörden wirft, bei denen Verantwortungsflucht bei eigenem staatlichen Versagen bei einem rechtsexremen Verbrechen die Regel zu sein scheint.



    Der Staat hat kein Interesse, der Verantwortungsflucht in Hanau auf den Grund zu gehen.



    Es brächte wie bei der Mafia in Italien den Willen rechtsextreme Verbrechen stark zu bekämpfen. 481 rechtsextremeStrafällige liefen im Jahr 2020 trotz Haftbefehl frei in der BRD herum, auch weil sie abgetaucht waren.

    Zum Stichtag 28. März 2024 haben laut Bundesregierung bundesweit insgesamt 798 offene, das heißt noch nicht vollstreckte Haftbefehle gegen 606 Personen vorgelegen, die dem politisch rechten Spektrum zuzurechnen sind.

    www.bundestag.de/p...zmeldungen-1014920