Wrestling in Japan: Der haarige Bulle im Bikini
Richard Magarey ist der Shootingstar der japanischen Profi-Wrestlingszene. Als „Ladybeard“ tritt der Australier gegen die weibliche Konkurrenz an.
TOKIO taz | Nach dem Kampf atmet er schwer, seine dunkle, stöhnende Stimme hallt durch den Gang hinter den Kulissen. „Mein Bikinioberteil ist zweimal hochgerutscht“, ärgert er sich. „Dadurch war ich beim letzten Rückwärtssalto ein bisschen irritiert und bin nicht genau auf meiner Gegnerin gelandet.“ Detailarbeit, kaum ein Zuschauer wird den kleinen Fehler bemerkt haben. Aber Richard Magarey wurmt das. „Ich übe das jede Woche, eigentlich klappt das immer.“ Immerhin habe er den Kampf gewonnen, am Ende war er eben doch der Stärkere.
Oder die Stärkere? Ladybeard, wie der Australier Magarey im Ring heißt, ist der wohl exzentrischste Athlet seiner Zunft in Japan. Ob man ihn Wrestler nennen soll oder Wrestlerin, kann und will er nicht beantworten. Seine starke Brustbehaarung, der beträchtliche Armumfang, der Vollbart und der männliche Gang deuten auf Erstes hin.
Wie er aber im Ring einem kleinen Mädchen gleich rumhüpft, wie er seine langen Haare trägt, zwei Schulmädchenzöpfe, sein Make-up und der Bikini, in dem er kämpft, rücken ihn eher ins Lager der Frauen. Pro Wrestling Union, eine japanische Profiwrestlingliga, lässt ihn gegen Frauen antreten. Ladybeard, das auf Deutsch so viel wie Damenbart heißen soll, ist so etwas wie der neue Shootingstar in Japans populärer Wrestlingszene.
Um nicht nur Entertainer, sondern auch ein ernstzunehmender Wrestler zu sein, stemmt Magarey jeden Tag Gewichte, wöchentlich studiert er seine Stunts ein: Salto vor und zurück, diverse Rollen für seine Klammergriffe, Wurftechniken, Balanceübungen, um oben auf den Ringseilen sicher zu stehen.
Magareys „finishing move“, also der ultimative Griff, von dem jeder Wrestler einen hat, heißt Nutcracker, also Nussknacker: „Damit besiege ich meine Gegnerinnen fast immer. Wenn sie mit dem Rücken auf dem Boden liegt, stelle ich mich mit meinen Füßen an je eine Seite ihres Kopfes und geh dann in die Knie.“ Nach der mysteriösen Geschichte von Ladybeard wissen auch die malträtierten Gegnerinnen nicht, ob sich da ein männlicher oder weiblicher Unterleib auf ihr Gesicht drückt.
Ausgefallenes wird toleriert
Zehn Jahre Youtube: Wie die Videoplattform im Internet zur lukrativen Bühne für Profis und Jungsstars wurde, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 14./15. Februar 2015. Außerdem: Dupsy Abiola hat einen berühmten Vater, ein Start-up-Unternehmen und Visionen. Ein Gespräch über die damit verbundenen Freuden und Abgründe. Und: Was Wirtschaftsunternehmen an Universitäten anrichten, wenn sie Geld an Einfluss knüpfen. Hochschulwatch ist angesagt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Aber die Zuschauer treibt es in den Wahnsinn. Seit der Australier Magarey im vergangenen Jahr nach Japan gekommen ist, ist er schnell zu einer beliebten Figur in Japans Entertainmentbranche geworden. Regelmäßig tritt er in Talkshows auf und gibt Interviews, auf Facebook hat er Tausende Fans. Anders als in Hongkong, wo er vorher aktiv war und wegen seines Aussehens manchmal auch hart angegangen wurde, ist Ladybeard in Japan gefragt. Und das, wie er selbst betont, auch jenseits der im Land noch vergleichsweise großen Crossdresserszene, also jener Leute, die sich wie das je andere Geschlecht kleiden.
„Meine Rolle funktioniert hier echt gut“, sagt Magarey in ungewohnt entspannter, dunkler Stimme an einem anderen Tag. „In Japan ist man viel toleranter gegen Ausgefallenes und Neues als in vielen anderen Kulturen.“ Außerhalb des Rings, auf einer Straße im Tokioter Stadtzentrum, streift sich Magarey mal nicht bemüht lasziv durch sein volles, braunes Haar. „Ich biete dem Publikum einen Charakter, der die Geschlechterrollen hinterfragt. Das amüsiert die Leute.“
Wrestling ist so beliebt, dass es in Japan mehrere Profiligen gibt, die auch im Fernsehen übertragen werden. Japans Spielart ist dabei technisch versierter als das weltweit bekanntere Wrestling aus den USA, wo die Kämpfer der WWE auch weltweite Superstars sind. Japans Unterhaltungssport bewegt sich im nationalen Rahmen, legt viel Wert auf Athletik und weniger auf Körpermasse.
Popularität: Japan zählt neben den USA und Mexiko zu den großen Wrestling-Nationen. Es gibt dort eine große Anzahl professioneller Verbände. Die bekanntesten drei sind die All Japan Pro Wrestling, New Japan Pro Wrestling und die Pro Wrestling NOAH. Zuletzt haben sich die drei Marktführer zusammengetan und veranstalten auch ligenübergreifende Matches und Shows.
Ausrichtung: Wrestling ist stest eine Mischung aus Show und Sport. In Japan steht bei den größeren Verbänden eher der sportliche Wettkampf im Vordergrund. Kleinere Veranstalter wie die Pro Wrestling Union, für welche der anbei porträtierte Ladybeard kämpft, legen größeren Wert auf die Showeinlagen.
Frauen-Wrestling: Der erste Verband All Japan Women’s Wrestling Club wurde 1948 gegründet. Es folgte jedoch eine Phase, in der Frauen-Wrestling ein Schattendasein fristete. Erst die Gründung des All Japan Women’s Pro-Wrestling Corporation im Jahr 1968 leitete wieder einen Aufschwung ein. In den 1990er Jahren fanden besonders viele Kämpfe statt.
Ladybeard bricht mit den Standards
Gemessen am Durchschnitt der Gesellschaft sind die Charaktere aber trotzdem oft überzeichnete Ideale der Geschlechter. Die Männer sind extravagante Akrobaten oder muskelbepackte Protze. Die Frauen, von denen es deutlich weniger gibt, zeigen oft viel Haut und ihre sehr weiblichen Körper. Ladybeard bricht mit diesem Standard – dies in einer Zeit, in der in Japan mehr denn je über traditionelle Geschlechterrollen diskutiert wird.
In kaum einem Industrieland werden Frauen in Politik und Wirtschaft so benachteiligt. Nur rund 60 Prozent sind in den Arbeitsmarkt integriert, deutlich unter dem Niveau vergleichbarer Länder. Ein klassischer und fester Bestandteil von Frauenmagazinen sind Anleitungen zur Führung der Haushaltskasse und zum Umgang mit Kindern. Erziehung und Hausarbeit gelten als Frauensache. In Unternehmen werden weibliche Arbeitskräfte deshalb häufig mit der Erwartung beschäftigt, dass sie bei Eintreten einer Schwangerschaft ihren Job wieder aufgeben, und so wird kaum in deren Weiterbildung investiert.
Der Premierminister Shinzo Abe bekundet, Frauen künftig stärker fördern zu wollen. Weil in Japans Politik und Unternehmen fast regelmäßig Skandale um sexistische Äußerungen oder Diskriminierungen gegenüber Frauen aufkommen, berichten auch die Medien mittlerweile viel über das Thema. Viele Frauen sind unzufrieden mit ihren traditionellen Rollen, auch wenn sie häufig dennoch dem Ideal einer niedlichen, in vielerlei Hinsicht dem Mann dienenden Schönheit folgen.
Niedliches Kostümchen
Ladybeard, der haarige Bulle im Bikini, hält den Japanern schon durch seine Existenz den Spiegel vor. Dass er zudem den Frauenversteher geben kann, sei seiner Beliebtheit nicht abträglich, glaubt er: „Ich kenne ja die Situation, wenn man mir unter den Rock gucken will. Ich weiß auch, wie eng so ein Bikinihöschen ist. Es rutscht und drückt. Obwohl ich in die asiatischen Größen sowieso nicht reinpasse und alles maßschneidern lasse.“ Beim Training steigt er immer wieder auch in seine niedlichen Kostümchen, um sich während der Kämpfe nicht fremd zu fühlen.
Frauen will er dazu inspirieren, auch eine klassisch männliche Rolle zu leben, die bei Ladybeard unübersehbar ist. Neben dem täglichen Training übt er mit seiner Managerin aber auch, wie er sich möglichst weiblich bewegt. Beim Einmarsch in den Ring, wenn er unter Jubel des Publikums einige seiner Fans umarmt, gelingt ihm das mit Abstrichen ganz gut. Vor seinem letzten Sieg fiel Ladybeard mit breitem, fast hysterischem Grinsen den jungen Frauen in der ersten Reihe um den Hals. Danach stieg er allerdings breitbeinig in den Ring, streckte die Arme von sich, als hätte er Rasierklingen unter den Achseln.
„Das kommt vom Training“, schnauft Magarey nach seinem Kampf. Früher betrieb er Taekwondo als Leistungssport, seine erste Rolle im japanischen Wrestling war nicht durch Zufall der Australier Richard Burn, ein Meister dieses Kampfsports, der in Japan auf der Suche nach würdigen Herausforderern war. „Nach zwei Siegen verlor Burn gegen den dritten Herausforderer. Dann kündigte er seine Rückkehr in den Ring an, mit seinem wahren Ich.“
Bei der nächsten Show sprang ein haariger Bulle im Bikini durch die Arena. Richard Magarey war positiv überrascht: „Die lautesten Fans sind seitdem junge Frauen.“ Viele sahen eher aus wie die süßen Mädchen, die sie den traditionellen Geschlechterrollen zufolge auch sein sollten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“