Wohnen im Wahlkampf: Die neue soziale Frage
Die Wohnungsfrage ist so alt wie der Kapitalismus. Aktuell kämpfen Mieter:innen darum, das Wohnen dem Markt zu entziehen.
M it dem Wahlwochenende steht in Berlin die Entscheidung an: Sollen die Bestände der großen Immobilienunternehmen vergesellschaftet werden?
Im Vorfeld des Volksentscheids sprachen sich mehr als 350.000 Berliner*innen dafür aus, die Bestände der großen Immobilienunternehmen wie Vonovia, Deutsche Wohnen & Co in Gemeineigentum zu überführen. Das waren mehr Stimmen als jede Partei im Abgeordnetenhaus bei den letzten Wahlen erhalten hatte, wie Mieterinitiativen feststellten. Gleichzeitig gehen Zehntausende für bezahlbare Mieten auf die Straße, kämpfen dafür, ihre Häuser dem privaten Wohnungsmarkt zu entziehen oder protestieren gegen Zwangsräumungen. Der wesentliche Kern des Protests ist die Infragestellung des Warencharakters von Wohnraum und die Frage, wie dieser abseits des Marktes organisiert werden kann.
Die Wohnungsfrage ist dabei kein neues Phänomen, sondern so alt wie der Kapitalismus selbst. Bereits zu Beginn der kapitalistischen Expansion konnte die Zuspitzung der sozialen Frage in Form der Wohnungsnot beobachtet werden. Die Industrialisierung und die Verdichtung von Warenströmen in den Städten beförderten einen Zuzug von Arbeitskräften. Viele zogen in die Stadt und in Wohnungen, die oft den Fabrikbesitzern gehörten, die sie zu einem hohen Preis an ihre Beschäftigten vermieteten. Friedrich Engels stellt in seiner frühen Schrift über die arbeitende Klasse in England mit Blick auf die Wohnungsfrage fest, dass Wohnraum im Kapitalismus die Form einer normalen Ware annimmt, deren Tauschwert in letzter Instanz durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Dies führt allerdings dazu, dass der Tauschwert in Widerspruch zu ihrem Gebrauchswert gerät und eine zunehmende räumliche und soziale Polarisierung in den Städten entsteht.
Inga Jensen ist Doktorandin an der Bauhaus-Universität Weimar und forscht zu Fragen der (Re-)Kommunalisierung von Wohnraum
Felix Syrovatka ist Postdoktorand am Institut für Arbeitsrecht der Freien Universität Berlin
Dementsprechend gibt es seit jeher Bestrebungen von Mieter*innen, sich zu organisieren und Wohnraum den Warencharakter zu entziehen. So kämpften bereits in der Weimarer Republik Mieter*innen um den Erhalt ihrer Wohnungen und gegen Zwangsräumungen. Die ohnehin kargen Löhne und knappen Haushaltseinkommen wurden oftmals von der Miete aufgefressen, sodass insbesondere unter den Arbeitern nicht selten die Frage „Miete oder Essen“ im Raum stand. Die damalige Mieterbewegung beantwortete diese Frage deutlich: „Erst das Essen, dann die Miete“.
In der Nachkriegszeit bestimmten dann andere wohnungspolitische Fragen die gesellschaftspolitische Debatte. Der Klassenkompromiss der Bonner Republik, der das „deutsche Wirtschaftswunder“ ermöglichte, befriedete temporär auch die soziale Zuspitzung. Durch eine sozialstaatliche Politik der Wohnungsversorgung, einen stark regulierten Wohnungsmarkt und starke Gewerkschaften blieben soziale Aspekte des Wohnens weitgehend nachgeordnet, während Fragen der Stadtplanung in den Vordergrund traten.
So protestierten etwa in den 1960er Jahren Mieter*innen in Westberlin gegen die geplante Kahlschlagsanierung und den Abriss ihrer Häuser zugunsten der autogerechten Stadt. In den 1970er Jahren besetzten in vielen großen Städten Jugendliche leerstehende Häuser, um selbstorganisierten Wohnraum und Jugendzentren zu schaffen, wobei etwa in Berlin die leerstehenden Wohnungen der landeseigenen Wohnungsunternehmen im Zentrum der Auseinandersetzungen standen. Die Thematisierung des Leerstandes und der Zustand der Wohnungen wurde zum zentralen Thema der Mieter*innenbewegung in ganz Westdeutschland.
Mit der Aufkündigung des Klassenkompromisses der Nachkriegszeit verschärften sich zunehmend die sozialen Missstände auf dem Wohnungsmarkt. Die Aufhebung der Mietpreisbindung in Westberlin im Jahr 1988, die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit ein Jahr später und die daraus resultierenden, rasant steigenden Mieten verschärften die soziale Ungleichheit. Sie führten zur Beschleunigung jenes Prozesses, den Engels im 19. Jahrhundert bereits als die Verdrängung der Arbeiterklasse aus den Städten beschrieb und den wir heute als Gentrifizierung kennen. Die soziale Wohnungsfrage kam zurück in die gesellschaftliche Debatte.
Angeheizt wurde sie durch die Privatisierungen der öffentlichen Wohnungsbestände ab den 1990er Jahren. Sie führten bundesweit zu einem Rückgang der kommunalen Wohnungsbestände von etwa 20 Prozent am Gesamtwohnungsmarkt in den 1980er Jahren auf unter 6 Prozent Mitte der 2000er Jahre. Dabei stellt der Stadtstaat Berlin ein besonders negatives Beispiel dar: Allein durch den Verkauf der damals größten landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft GSW im Jahr 2004 wurde der Wohnungsbestand im Besitz des Landes auf einen Schlag um 65.000 Wohnungen verringert. Die umfassende Privatisierungsstrategie der Landesregierung und die Umstrukturierung der Wohnungspolitik ab den 1990er Jahren führte nach Angaben des Stadtsoziologen Andrej Holm zwischen 1991 und 2008 zu einer Reduzierung des landeseigenen Berliner Wohnungsbestands um nahezu 50 Prozent. Auch die Liegenschaftspolitik wurde in dieser Zeit entlang marktwirtschaftlicher Kriterien ausgerichtet. Das Land Berlin versuchte seinen chronisch überschuldeten Landeshaushalt dadurch auszugleichen, dass es sein Tafelsilber höchstbietend verkaufte.
Eine Vielzahl der damals veräußerten Wohnungen befinden sich mittlerweile im Eigentum der börsennotierten „Deutsche Wohnen“ beziehungsweise in absehbarer Zeit im Besitz des größten deutschen Immobilienunternehmens Vonovia. Die sogenannte Finanzialisierung des Wohnungsmarktes, das heißt, das Eindringen großer börsennotierter Unternehmen in den Wohnungsmarkt, verschärfte die Situation weiter, da die Renditeerwartungen des Finanzmarktes eine Strategie der Kostenoptimierung bei gleichzeitigen Mietsteigerungen erzwingen. Der Rückzug des Landes aus der Wohnungspolitik, die Deregulierung und Finanzialisierung des Wohnungsmarktes und die Diversifizierung der Eigentümerstruktur: All dies führte schließlich zu einem drastischen Anstieg der Miet- und Immobilienpreise, bei dem die Einkommen nicht mehr Schritt halten konnten.
In der Folge formierte sich Protest, zunächst in den Kiezen, dann gegen geplante Großbauprojekte und Leuchtturmmodelle wie das Investorenprojekt Mediaspree in Friedrichshain-Kreuzberg oder Pläne für eine Bebauung des Tempelhofer Feldes. Es folgten Proteste von Sozialmieter*innen gegen steigende Mieten und auslaufende Sozialbindungen, von Senior*innen gegen die Räumung ihrer Freizeittreffs und von Gewerbetreibenden gegen die Kündigung ihrer Läden.
Die Mieterbewegung hat diese Themen zurück auf den Tisch geholt und auch einige reale politische Zugeständnisse erwirkt: Mit dem Mietenvolksentscheid 2016 wurde die Frage nach einer sozialen Mietpolitik und demokratische Mitbestimmung in den öffentlichen Wohnungsunternehmen neu verhandelt. Seit einiger Zeit liegen zudem die Forderung nach einer (Re-)Kommunalisierung von Wohnungsbeständen auf dem Tisch.
Die Forderung nach einer (Rück-)Überführung von Infrastrukturen in die öffentliche Hand gibt es in anderen Bereichen bereits seit Jahren. Volksentscheide haben die Rückübertragung der Netzkonzession der Wasser- und Energieversorgung in Hamburg und Berlin direkt oder indirekt erwirkt. Gleichzeitig werden bundesweit neue Stadtwerke und Stadtwerksverbände gegründet. Was in anderen Bereichen der öffentlichen Infrastrukturen bereits gang und gäbe ist, ist im Bereich des Wohnens Neuland: Zwar können bundesweit vereinzelt Neugründungen von Wohnungsbaugesellschaften beobachtet werden mit dem Ziel, die Privatisierungsfehler der Vergangenheit auszumerzen, eine breite (Rück-)Überführung von Wohnungsbeständen in Gemeineigentum ist jedoch bisher nicht zu beobachten.
Die aktuellen Entwicklungen in Berlin sind daher umso bemerkenswerter. Während einige Berliner Bezirke das kommunale Vorkaufsrecht aktiv nutzen, kaufen Hausgemeinschaften ihre Häuser mithilfe einer Stiftung an. Andere, wie die Mieter*innen der Karl-Marx-Allee, erdenken Modelle wie den gestreckten Erwerb, bei dem die Mieter*innen mit Krediten der Investitionsbank Berlin ihre Wohnungen individuell angekauft und dann in das Eigentum einer öffentlichen Wohnungsbaugesellschaft weitergereicht haben. Andere setzen kollektive Planungsprozesse um oder stoppen den Verlauf von Grundstücken zum Höchstpreisverfahren wie etwa am Kreuzberger Dragoner Areal, einem gemischt genutzten Gewerbeareal mitten in der Stadt.
All diese verschiedenen Strategien haben es sich zum Ziel gemacht, Wohnraum dem Markt zu entziehen und ihm den Warencharakter zu nehmen. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wohin mit dem dekommodifizierten Wohnraum? Die Praxis reicht von Hausgemeinschaften mit basisdemokratischen Modellen der Selbstverwaltung wie in Syndikatsprojekten über Modellprojekte zwischen kommunaler Eigentümerschaft und Mietermitbestimmung, Genossenschaftsmodelle bis hin zur Eigentümerschaft durch die landeseigenen Wohnungsunternehmen.
Jetzt liegt die Forderung nach der Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen auf dem (heimischen Küchen-)Tisch beziehungsweise an der Wahlurne und spitzt die Fragen der vergangenen Jahre deutlich zu: (Wie) kann Wohnraum dem privaten Markt entzogen werden? Und welche öffentlichen Besitz- und Verwaltungsformen können die beste Antwort auf die Wohnungsfrage geben?
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