Wo Glühwürmchen umeinander werben: Der Friedhof als Lebensraum
Die Zeit zwischen den Jahren bietet eine gute Gelegenheit, mal über einen Friedhof zu spazieren. Er bietet ein Refugium für viele Tieren und Pflanzen.
D ie Sonne scheint auf das Efeudickicht an der alten Mauer. Es raschelt, eine Amsel fliegt heraus. Über den moosweichen Weg hopst ein Rotkehlchen. Die Tiere sind an Menschen gewöhnt und vorsichtig, aber nicht scheu. Der Reiher am Teich hebt nur träge ab, geht man an ihm vorbei, ein Stück weiter landet er sofort wieder.
Ein Eichhörnchen hat seinen Winterkobel für einen Futterausflug verlassen, es springt den Baum hoch und von Ast zu Ast. Überhaupt, die Bäume: knorrige Eichen, hohe Birken, uralte Buchen, Trauerweiden. Durch die winterkahlen Zweige fällt Sonnenlicht, der Raureif auf den Spinnennetzen funkelt wie Perlen.
Das Paradies? Nein. Nur ein mittelgroßer, mittelalter Friedhof in Hannover, im Stadtteil Stöcken. Aber es könnte auch ein anderer Friedhof sein, einer wie es ihn hundert- und tausendfach gibt, vom weltberühmten Friedhof Ohlsdorf in Hamburg bis zum kleinen Bergfriedhof im Harz, der jetzt im Winter einer verschneiten Märchenlandschaft gleicht.
Friedhöfe sind Stätten für unsere Toten, für unsere Trauer, für die Erinnerung – und die Besinnlichkeit. Eine Mischung aus Park und Museum, voller Kulturgeschichte, Kunst und Kitsch. Und: Friedhöfe sind grüne Inseln, dicht bepflanzt mit Bäumen, Büschen und Blumen. In Städten wirken sie als Ausgleich zu Beton und Asphalt; kühlen die Luft, filtern Feinstaub, produzieren Sauerstoff und lassen Regenwasser in den Boden sickern, das auf all den versiegelten Flächen sonst ungenutzt in die Kanalisation rauscht.
Oasen in der Agrarwüste
Auch auf dem Land sind die Friedhöfe Oasen in der intensiv genutzten Agrarwüste. Vor allem für Tiere, Pflanzen und andere Lebewesen, von Allerweltsarten bis zu denen der Roten Liste leben hier oft mehr Arten als anderswo. Weil auf Friedhöfen keiner rennt und tobt wie in anderen Parks, weil Hunde, Radfahrer und Autos draußen bleiben müssen, weil abends die Tore schließen und nachts Ruhe herrscht. Und weil es dunkel ist.
Licht ist zwar nicht dreckig, aber wenn es zu viel davon zur falschen Zeit gibt, spricht man dennoch von Lichtverschmutzung. Die bringt vor allem das Fortpflanzungsverhalten der Insekten empfindlich durcheinander. Glühwürmchen sind das Paradebeispiel. Diese unscheinbaren braunen Käferchen werden in der Dämmerung der Sommermonate zu magischen Wesen.
Die Männer schwirren umher, auf der Suche nach Weibchen – die unten auf der Erde sitzen und um die Wette leuchten. Konnte ein Männchen bei einer Dame landen, macht sie ihr Biolumineszens-Lämpchen aus und es geht zur Sache. Haben die Männchen auf der Suche nach ihren Weibchen die Orientierung verloren und versuchen die Lämpchen einer Lichterkette aufzureißen, passiert gar nichts. Keine Hochzeit, keine Eier, kein Glühwürmchennachwuchs.
Jetzt, im Dezember, sind keine Leuchtkäfer unterwegs. Sie überwintern starr vor Kälte als Larve im Boden, unter Laub oder in altem Holz. Auch Fledermäuse, Schmetterlinge, Eidechsen, Kröten, Igel und viele anderen halten Winterschlaf.
Raumgreifendes Efeu
Wenn wenig los ist, fallen sonst sehr unscheinbare Lebewesen umso mehr auf, Moose und Flechten zum Beispiel. Oft hält man sie für Unkraut oder schädlich – zu unrecht. Friedhöfe sind ein wichtiger Lebensraum für sie, die Grabsteine und da besonderes die unebenen und nicht geschliffenen Natursteine, in denen sich in den Ritzen und Löchern Wasser und ein bisschen organische Substanz sammeln kann.
Einem Moos reicht das schon. Moose sind altehrwürdige Pflanzenwesen; vor Hunderten Millionen Jahren direkt aus den Algen entstanden sind sie noch viel bescheidener als das sprichwörtliche „Veilchen im Moose“ und wachsen überall da, wo sonst nichts wachsen mag.
Ähnlich ist es mit den Flechten. Flechten sind Symbiosen, eine Lebensgemeinschaft aus zwei und mehr unterschiedlichen Organismen, die sich zusammentun und davon einen Vorteil haben. Eine Flechtenart wird dabei jeweils gebildet von einer bestimmten Alge und einem bestimmten Pilz. Manchmal auch von einem Cyanobakterium statt einer Alge – und manchmal sind es zwei oder drei ganz unterschiedliche Pilze, statt nur einem … Okay, Biologenlatein.
Für alle Laien sind es wunderschöne Polster, Flecken und Zotteln, die mit der Zeit die Steine bedecken. Je älter der Friedhof, desto mehr gibt es. Manchmal sind auch die Friedhöfe schon weg, aber die Grabsteine noch da und die Moose und Flechten auch. Der Friedhof Lindener Berg in Hannover zum Beispiel, 1862 angelegt und lange Zeit „bestorben“ (so heißt das wirklich), ist heute nur noch Denkmal und Stadtpark.
Im Friedhofsjargon nennt man solche Bestattungsflächen „aufgelassen“ und es gibt auch auf jedem noch in Betrieb befindlichen Friedhof ungenutzte Bereiche. Das kann eine große Fläche am Stück sein, weil der Zuwachs im geplanten Maße ausblieb, weil weniger Menschen sterben und viele eingeäschert und in einer Urne bestattet werden. Oder nur ein einzelnes Grab inmitten anderer, dessen Ruhefrist abgelaufen ist und das noch keinen Nachnutzer gefunden hat.
Manche Friedhofsbetreiber hängen strenge Schilder an diese Gräber: „Angehörige bitte melden!“, dann wird das Grab eingeebnet und mit Zierrasen eingesät, der Grabstein wird zu Straßenbauschotter.
Andere Friedhöfe machen es anders. Da dürfen Stein, Moos und Flechten bleiben, der Efeu wächst raumgreifend drüber. Oder auf diesen Flächen werden naturnahe Mustergräber angelegt wie auf dem Neuen Friedhof in Lingen im Emsland.
Die zeigen, dass ein Grab nicht den typischen Friedhofslook tragen muss aus Immergrün, Begonie, Steckvase und Grablicht, um schön und gepflegt auszusehen. Sondern schön und gepflegt aussehen – und eine von Hummeln, Bienen und Schmetterlingen umschwärmte Oase sein kann. Mit Schneeglöckchen und Herbstaster, Akelei, Thymian, Frauenmantel oder Lavendel.
All das sieht sogar im Winter gut aus: Die verblühten Staudenstängel können stehen bleiben und sind mit Raureif überzogen oder mit kleiner Schneehaube sehr dekorativ. Die heimischen Pflanzen sind außerdem robust und müssen selten gegossen werden.
Das ist wichtig und wird immer wichtiger. Pflegeleicht muss es sein. Weil es Geld kostet, Zeit und Arbeit, ein Grab zu pflegen, enden heutzutage viele Menschen im Urnenschrein oder auf einer Aschestreufläche. Es gibt Alternativen, Gemeinschaftsgräber zum Beispiel. Kleine Gräberfelder zu bestimmten Themen, Rosenhügel und ein Gräsermeer, Kräuterhochbeete oder ein Heidegarten, Gräber voller Bauernblumen und ein großes Beet mit Schmetterlingsblumen.
Alternativen zum Friedwald
Man mietet ein Plätzchen, bekommt ein kleines Schild mit dem Namen des Bestatteten. Um die Grabpflege kümmern sich nicht, mehr schlecht als recht, die Angehörigen, sondern jemand, der vom Friedhof beauftragt wurde. Solche Gräber sind immer schön; und gleichzeitig nicht sehr teuer.
Auch wer unter einem Baum bestattet werden möchte, hat mittlerweile Alternativen zum Friedwald weit draußen. Aus der anfangs misstrauisch beäugten Konkurrenz mit den Bestattungsforsten haben viele Friedhöfe eine Tugend gemacht. Wenn man schon alleenweise Bäume auf dem Gelände hat, warum nicht auch noch Geld damit verdienen und sie zu Grabstellen werden lassen? Auch unter Obstbäumen wie auf einer Streuobstwiese kann man sich mancherorts bestatten lassen, auf dem Waldfriedhof in Celle zum Beispiel im sogenannten Ribbeck’schen Garten.
Der Kreislauf des Lebens
Sonne, Nebel, buntes Laub und Frühlingsblumen unter blühenden Kirschen, Vögel, Schmetterlinge, Eichhörnchen. Solche Bilder sind Nahrung für die Seele, sie bleiben im Herzen, auch wenn man in Trauer ist. Den Kreislauf des Lebens, Vergehen und Entstehen – besser symbolisieren als die Natur selbst können das keine Riten oder Reden, keine Satzungen oder Sprüche auf dem Grabstein. Lebendige Friedhöfe sind deshalb auch für Menschen eine Wohltat, sie bewirken ein ganz besonders Friedhofsgefühl:
Tritt man durch das Tor, vom Parkplatz oder der Straße, aus der Geschäftigkeit des Alltags, betritt man eine andere Welt. Die Stimmen werden leiser, die Schritte ruhiger. Schwere Gedanken werden angesichts der Ewigkeit klein und im guten Sinne unwichtig. Ein guter Grund, einen Friedhof zu besuchen – und zwischen den Jahren ist ein guter Zeitpunkt.
Es gibt viele gute Gründe mehr für Friedhöfe, sie zu schätzen, zu nutzen und zu erhalten. Allerdings wird das durchaus hitzig diskutiert zwischen Friedhofszwangfans, die glauben, der Friedhof wäre tot, ließe man die Regeln locker, und der Gegenseite, die meint, der Friedhof sei längst tot. Erstickt unter Zierkoniferen und Grabsteingrößenvorschriften, weswegen es erlaubt sein solle, dass jeder mit seinen Toten macht, was er möchte.
Der Naturschutz, der Lebensraum Friedhof ist ein sehr wichtiger Grund, Friedhöfe zu erhalten, die sich dann mit der Zeit in Naturparadiese verwandeln.Der Tod ist nicht das Ende. Ganz bestimmt nicht für Friedhöfe und für all die Tiere und Pflanzen dort. Für die ist der Tod erst der Anfang.
Sigrid Tinz ist Diplom-Geoökologin und arbeitet seit 20 Jahren freiberuflich als Journalistin und Buchautorin zu allen Themen rund um Natur, Garten und Artenvielfalt. Außerdem gibt sie Seminare und postet auf Instagram unter @kraut_und_buecher. Der Text ist ein Auszug aus ihrem Buch „Der Friedhof lebt“, das 2021 im Pala-Verlag erschienen ist.
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