Witch House: Tanzen war gestern
Das neue Elektronikgenre Witch House setzt auf düsteren Synthiepop, orchestralen Bombast und tiefe Bässe. Die Musik steht für radikale Entschleunigung.
Die Soundsignatur des verlangsamten Basses tritt in ein neues Zeitalter. Schwappte vor vier Jahren der Drum-n-Bass-Hybrid Dubstep mit seinen düster-schleppenden Beats über die Grenzen Englands nach Europa, wächst derzeit eine neue Generation des entschleunigten Beats heran. Die Produzenten heißen Salem, White Ring oder Mater Suspiria Vision.
Mit ihren tiefen Beats, den warmen düsteren Synthiecollagen und den geisterhaft orchestralen Frauengesängen lassen sie ein hypnotisches Klanggebilde mit reichlich Bombast entstehen. Psychedelische Artworks und mystisch angehauchte Videosamples aus B-Movies der Sechziger von Jean Rollin bis Kenneth Anger und Klang-Accessoires des Okkulten tragen ein Übriges dazu bei, die Hörer in höhere Seinszustände zu transportieren.
Seit rund einem Jahr kursiert die noch überschaubare Szene unter dem Begriff "Witch House" durch diverse Blogs, und nun findet sie allmählich ihren Weg an die Oberfläche. Labels wie Disaro Records aus Houston und Tri Angle aus Brooklyn bringen den Sound in kommerziell verwertbare Form. Letztere haben seit August mit Kompakt sogar einen deutschen Vertrieb.
Kaum geboren, droht die global verstreute Szene schon wieder zu zersplittern. Neben dem ursprünglich an HipHop-Downbeats orientierten Witch House (auch Drag oder Screw genannt) bilden sich weitere Subgenres wie der mit geraden Viererbeats versetzte Zombie Rave oder der psychedelisch angehauchte Ghost Drone, auch poppige Ansätze sind greifbar.
Zeitlupenhafte Psychedelik
Ein gemeinsamer Nenner ist die gedrosselte Geschwindigkeit. "Doch die wahren Witch-House-Sounds wirst du an ihrer Energie erkennen", erklärt Owleyes, Mitbetreiber des Labels Disaro Records aus Texas. Aber was ist der wahre Witch-House-Sound?
Vorreiter ist die Gruppe Salem, die kürzlich ihr Debütalbum "King Night" veröffentlichte. Zwischen Industrial, ravigem Synthiepop, Gothic und den Witch-House-typischen tiefen Beats schwebend, beruft sich das Trio aus Houston auf eine musikgeschichtlich noch weiter zurückliegende Referenz: DJ Screw, ebenfalls aus Houston/Texas, der Ende der Neunziger erstmals die Remixtechnik der Verlangsamung anwandte, die Beats-per-minute-Zahl fast halbierte und damit dem HipHop eine ganz neue Klangdimension verschaffte.
Vor genau 10 Jahren verstarb DJ Screw an einer Überdosis der Droge "Sizzurp". Das hustensaftähnliche Getränk mit dem Opiat Kodein, welches die Wahrnehmung dehnt und zu Halluzinationen führen kann, verhalf ihm zu jener zeitlupenhaften Psychedelik, die auf Salem und andere Witch-House-Künstler so inspirierend wirkt. So formiert sich ausgehend vom Chopped-and-Screwed-Style ein düsteres, fast magisches Klanggebilde abseits gängiger Songstrukturen, das eine Sogwirkung hat.
Diese soghaft dunkle Energie ist musikalisch gesehen das sie einigende Merkmal. So ist Balam Acab, ein weiteres Zugpferd im Witch-House-Clan, Dubstep-lastiger, minimalistischer und weniger dem Okkultismus verhaftet. Mit dem sinfonisch hallenden Track "See Birds" verschaffte der 19-jährige New Yorker Collegestudent Alex Kooneer dem Tri-Angle-Label einen Sommerhit.
Mater Suspiria Vision aus Düsseldorf wiederum hat mit dem hypnotischen achtminütigen Track "The Afterlife" eine düstere Hymne geschaffen, die mit endlos repetitiven Beats und rollenden Synthiemelodien und einer variierenden Lautstärke ein stehendes Gewässer voller Wärme und Sehnsucht schafft.
Stärker vom Pop beeinflusst ist der in San Francisco lebende Christopher Dexter Greenspan aka oOoOO (ausgesprochen Oh), der kürzlich ebenfalls mit der gleichnamigen EP "oOoOO" debütierte. Träumerisch träge schleppen sich seine verlangsamten, aber klar halligen HipHop-Beats durch ferne Synthiewelten - versetzt mit den weiblichen, dahingehauchten Vocalsamples wie im Track "Mumbai" erzeugen sie den typisch dunklen Sound, der beängstigend und doch wärmend wirkt.
In diesem Gesamtkunstwerk aus geisterhaften Klanglandschaften, visuell gekoppelt mit psychedelischer Videokunst und okkulter Symbolik (die Myspace-Seiten sind überfrachtet mit umgedrehten Kreuzen und Runen) steckt nicht nur kreatives, sondern auch utopisches Potenzial. Ein Gefühl der sehnsuchtsvollen Weite und Losgelöstheit, auf dessen Ebene ein anderer Bewusstseinszustand erreicht werden soll, fernab der kapitalistisch geprägten Realität.
Kein Leistungsimperativ
Zurück zum Selbst, gegen den Leistungsimperativ und für die Entschleunigung. Verlangsamte Beats aus dem Untergrund als Retter einer sich immer schneller drehenden digitalisierten Welt, so könnte man es deuten. Ein durchaus subversiv romantischer Ansatz.
Und ein gefundenes Fressen für den Markt, der nach identitätsstiftenden Authentizitätsmodellen giert. Wie jede Subkultur läuft auch Witch House Gefahr, die kritische Masse zu erreichen. Sogenannte Witch-House-Partys etablieren sich gegenwärtig in New York, London und Berlin.
Die "echten" Witch-House-Künstler aber üben sich in dezenter Zurückhaltung: Kommuniziert wird hauptsächlich online, Mainstreammedien steht man skeptisch gegenüber, überhaupt ist der Begriff "Witch House" ein von Labelmachern aufgesetzter Stempel, den man nicht gerne trägt. Verhängte Gesichter auf der Bühne oder mit Symbolen versetzte Projektnamen tragen zur gewollten Unsichtbarkeit bei, hier versagen die üblichen Suchmaschinen. Eine Verschleierungstaktik, die das Interesse schürt.
Es bleibt abzuwarten, ob diese Subkultur einer Massenverwertung widersteht, gegen die sich die Urheberschaft derzeit wehrt - ein bloßer Lieferant der Ökonomie für Sinnproduktion wollen sie nicht sein. Ob Witch House aber nur ein virtuell aufflackernder Geist ist oder die Substanz für ein eigenständiges und dauerhaft funktionierendes Musikgenre hat, wird sich zeigen. Das Zeug dazu hätte es.
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