Wirbelsturm „Irma“ in Florida: Festnahmegrund Hurrikan
Florida ergreift drastische Maßnahmen: Flutretter führen Obdachlose in Handschellen ab, Papierlose fürchten sich vor dem Sturm und vor Abschiebung.
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Mit denen, die auf den Straßen geblieben waren, mussten die staatlichen Flutretter diskutieren. Manche ließen sich schließlich in die Schutzräume bringen. Andere blieben bei ihrem prinzipiellen „Nein“. Mindestens sechs Personen wurden in Handschellen abgeführt und in die Psychiatrie zwangseingewiesen.
Das Baker-Gesetz erlaubt die Zwangsinternierung für eine „Begutachtung“, wenn Menschen eine Gefahr für sich selbst darstellen. Erst 72 Stunden nach der Einweisung muss ein Richter entscheiden. Im Fall von „Irma“ reichte dieser Zeitraum bis Montag – genug, um den großen Sturm zu überbrücken.
„Ich will keine Selbstmordbriefe mit meinem Namen unterzeichnen“, begründete der Sozialarbeiter Ron Brook gegenüber Journalisten die Zwangsinternierung. Seine Gruppe, die auf den Straßen des Miami-Dade County mit Obdachlosen arbeitet, war unterwegs, bis „Irma“ Windstärken von 72 Stundenkilometern erreichte. Dann rückte sie nicht mehr aus.
Florida zieht wegen seines normalerweise milden Klimas Obdachlose aus allen Teilen der USA an. Mehr als 40.000 Obdachlose leben insgesamt auf den Straßen des Bundesstaats. Doch jenseits des Wetters ist Florida zugleich der gefährlichste aller Bundesstaaten für Obdachlose. Es gibt dort mehr individuelle Gewaltakte gegen Obdachlose als irgendwo sonst in den USA. Auch die Behörden sind berüchtigt für ihren feindseligen Umgang mit Obdachlosen.
Papierlose haben doppelt Angst
So haben es elf Städte in Florida verboten, im öffentlichen Raum – wie Parks – ohne behördliche Genehmigung Essen an Obdachlose zu verteilen. Erst im vergangenen Januar wurden sieben Aktivisten der Gruppe „Food not Bombs“ auf Grundlage dieses Verbots in Tampa festgenommen.
Eine andere – deutlich größere – Bevölkerungsgruppe in Florida, die während des Sturms doppelte Angst hatte, sind die Papierlosen. Mehr noch als den Hurrikan und die Flutwellen fürchteten sie das Zugreifen der Ausländerpolizei und eine mögliche Abschiebung.
Der Sheriff von Polk County, Grady Judd, verunsicherte sie zusätzlich, als er kurz vor dem Sturm twitterte, am Eingang zu jedem Schutzraum würden „vereidigte Strafvollzugsbeamte“ stehen. In einem weiteren Tweet kündigte er an, seine Beamten würden Gesetzesbrecher „gern in den sicheren Schutz des County Jails“„gern in den sicheren Schutz des County Jails“ bringen. Für zusätzliche Angst sorgte, dass auch das Ministerium für die Heimatsicherheit und die auf Abschiebungen spezialisierte Ausländerpolizei ICE an den Rettungsaktionen im Sturm beteiligt waren.
Allein im südlichen Florida leben rund 450.000 Menschen ohne Papiere. Sie stammen aus Lateinamerika und der Karibik – insbesondere aus Haiti – und sie arbeiten in der Gastronomie, der Landwirtschaft und dem Bauwesen des Bundesstaats. Sie leben in den ärmeren Teilen der Städte und sehr viele von ihnen mieten Wohnwagen in den besonders überschwemmungsgefährdeten Gebieten von Florida.
Sogar aus dem Weißen Haus kommt Unterstützung
Sozialarbeiter, Einwanderungsaktivisten und Kirchenleute sind in den Tagen vor dem Sturm von Wohnwagen zu Wohnwagen gegangen ist, um die Bewohner davon zu überzeugen, in Schutzräume zu gehen. Was sie oft zu hören bekamen: dass sich die Papierlosen zwischen „Irma“ und der befürchteten Abschiebung entscheiden.
„Die Angst ist groß“, bestätigte die Nonne Ann Kendrick in Apopka gegenüber Journalisten. Nachdem sich zuvor schon bei dem Sturm in Texas gezeigt hatte, dass Papierlose aus Angst vor der Abschiebung nicht in Schutzräume gegangen sind, versuchten in Florida im letzten Moment auch republikanische Politiker, diese Menschen zu beruhigen.
Nonne Ann Kendrick
Senator Marco Rubio versicherte, dass Papierlose keine Abschiebung riskierten, wenn sie in einen Schutzraum gingen. Und der Bürgermeister von Miami-Dade County, Carlos Gimenez, sagte ausdrücklich: „Jeder, der Schutz sucht, ist willkommen.“ Selbst aus dem Weißen Haus kam Unterstützung für die Papierlosen. Dort erklärte der Berater für die Heimatsicherheit, Tom Bossert, wenn es um die „unmittelbare Lebensrettung“ gehe, müsse sich kein Individuum wegen seines Einwanderungsstatus sorgen.
In Polk County rechtfertigte sich Sheriff Judd für seine Tweets: Er habe ausschließlich die Sicherheit seiner Mitbürger im Sinn gehabt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich dafür kritisiert werden würde, dass ich meine Arbeit tue.“
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