: Wir brauchen mehr Mumins
Im Schatten des Zweiten Weltkriegs schrieb Tove Jansson ihre ersten Mumin-Geschichten. In ihrer Welt sind alle willkommen. Eine Reise nach Finnland zum 80. Geburtstag der nilpferdartigen Wesen

Aus Helsinki und Tampere Louisa Zimmer
Ihre runden, nilpferdartigen Umrisse zieren bunte Tassen, hängen als Anhänger an Rucksäcken und schmücken Lakritzverpackungen: die Mumins. Sie sind klein und niedlich – und in ihrem Heimatland Finnland allgegenwärtig. In den Büchern von Tove Jansson leben Mumintroll, Muminpapa und Muminmama im Mumintal in ihrem blauen Haus.
Im Laufe der Geschichten kommen zahlreiche Charaktere wie Klein Mü und Snupferich hinzu, die sie in ihrer Wahlfamilie integrieren und mit denen sie Abenteuer erleben – um am Ende stets in ihr gemütliches Zuhause zurückzukehren. Dort trinken sie Tee und essen Pfannkuchen.
Weniger heimelig geht es in den Mumin-Geschäften im Stadtzentrum von Helsinki zu. Hier drängen sich Touristen – viele von ihnen aus Asien – um die bunten Tassen zu kaufen, die längst so legendär wie die Figuren selbst sind.
Keine Frage: Die Mumins sind das bekannteste Kulturgut Finnlands. Doch in diesen verregneten Herbsttagen sind sie noch präsenter als sonst. Die bunte Trollbande feiert dieses Jahr ihren 80. Geburtstag. Im Jahr 1945 erschien das erste Mumin-Buch, „Småtrollen och den stora översvämningen“ („Die Mumins und die große Flut“) auf Schwedisch – der Muttersprache der finnlandschwedischen Autorin Jansson, die 2001 verstarb. Ihre Biografie prägte die Entstehung der Figuren. 1914 wurde sie in Helsinki geboren, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In ihrer Jugend erlebte Jansson die Kriegsjahre Finnlands – vom Winterkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Während dieser Zeit schrieb sie das erste Mumin-Buch, dessen Zeichnungen experimenteller und die Handlung noch spröder wirkt als in den späteren Bänden. In einem späteren Vorwort schrieb Jansson: „Es war Kriegswinter im Jahr 1939. Es schien völlig sinnlos zu sein, Bilder zu schaffen. Ich fühlte plötzlich den Drang, etwas aufzuschreiben, das mit „Es war einmal“ begann.“
Das Buch handelt davon, wie Muminmama und Mumintroll den verlorenen Muminpapa nach einer Flut suchen und dafür einen dunklen Wald durchqueren. Am Ende finden sie ihn und bauen ihr Haus, das auch in den kommenden Büchern für Geborgenheit und Sicherheit stehen sollte. In den folgenden acht Büchern fügte Jansson zentrale Figuren wie die androgyne Too-Ticky hinzu, inspiriert von ihrer Lebenspartnerin Tuulikki Pietilä.
Ab Mitte der 1950er Jahre hatten die Bücher und Comics Kultstatus erreicht, später folgten internationale Animationsserien und Merchandiseartikel. Das Jubiläum wird nun mit einer breiten Marketingkampagne gefeiert. Das Motto: „The door is always open“. In den Geschichten ist die Tür des blauen Muminhauses stets geöffnet – nicht nur für die Familienmitglieder, sondern auch für ihre Freund:innen und Weggefährt:innen, die wärmstens aufgenommen und einquartiert werden. Was können wir heute, fünfzig Jahre später, von den drolligen Figuren und ihrer Erfinderin lernen – in einer Zeit, in der wir mit Kriegen und Katastrophen konfrontiert sind? Wer sind ihre leidenschaftlichen Fans?
Eine erste Anlaufstelle, um die Mumins besser zu verstehen, ist das Architektur- und Designmuseum im Zentrum Helsinkis. Hier wurde Anfang Oktober die Ausstellung „Escape To Moominvalley“ eröffnet. Finnlands Präsident Alexander Stubb besuchte die Ausstellung zuerst. „Wir haben die Mumin-Geschichten durch die Linse von Raum, Architektur und Design untersucht“, erklärt Kuratorin Suvi Saloniemi in der pfirsichfarbenen Sitzecke der Ausstellung. „Dabei wurde schnell deutlich, dass sie viele Begegnungen und Themen enthalten, die uns auch heute beschäftigen: von Zugehörigkeit bis zu den globalen Herausforderungen unserer Gegenwart. Die Mumins lehren uns Empathie und Toleranz, sowie dass jeder Mensch ein Recht auf ein Zuhause hat.“
Die Ausstellung führt chronologisch durch das Leben und die Räume Janssons – von ihrem ersten Studio bis hin zum Haus auf der Insel Klovharu, wo sie mit Pietilä die Sommer bis kurz vor ihrem Lebensende verbrachte. Im Zentrum der Ausstellung steht das Muminhaus. Besonders gelungen ist, wie die Macher:innen der Ausstellung die Zeichnungen und Geschichten Janssons in die Gegenwart rücken. Anhand der Geschichte „Komet im Mumintal“ ziehen sie Parallelen zur finnischen Gegenwart. In der Geschichte fürchten die Mumins den Weltuntergang und ziehen sich in einer Höhle zurück – mit einer Badewanne und Kuchen. Eine Videoinstallation des Architekten Tapio Snellman zeigt Helsinkis Untergrund mit Schwimmhallen, Skatehallen und Fluchträumen. Eine Installation der Künstlerin Dana Olărescu greift die Themen Flucht und Zugehörigkeit auf. Die Kuratoren verbinden dieses Exponat mit dem Muminpapa, der in „Muminpapas wildbewegte Jugend“ über sein Aufwachsen als Waisenkind und ohne festes Zuhause schreibt. Erst später wird er dieses mit dem von ihm gebauten Muminhaus finden.
Wer noch tiefer in die Geschichten eintauchen will, reist weiter nach Tampere, ins weltweit einzige Mumin Museum. Kurz nach Eröffnung ist es in der Ausstellung ruhig, beinahe andächtig, abgesehen von umherlaufenden Kindern. „Aus Finnland reisen besonders Familien mit Kindern an, aus Europa und Asien vor allem Erwachsene“, berichtet die Ausstellungsleiterin Virpi Nikkari. Jährlich sehen sich rund 100.000 Menschen Janssons Illustrationen und Pietiläs Schaubilder an. Einer der Besucher an diesem Morgen ist Keigo, 25 Jahre alt, aus Tokio. Er kam als Auslandsstudent nach Finnland, kurz vor seinem Rückflug reist er alleine durchs Land. Sorgfältig schaut er sich die zahlreichen Exponate an und hört konzentriert die japanischen Hörspielvertonungen der Schaukästen. Wie erklärt er sich die Mumin-Verehrung in seinem Heimatland? „In Japan sind niedliche Figuren beliebt – deshalb passen die Mumins zu unserer Kawaii-Kultur.“
Eine andere Besucherin, Silke aus Finsterwalde, ist einige Generationen älter als Keigo. Eine finnische Freundin hat ihr die Mumins vor zwanzig Jahren gezeigt. Bevor sie ihre Freundin trifft, wollte sie noch einen Abstecher ins Museum machen. „Die Mumins zeigen, dass es so viele Möglichkeiten gibt, wie Menschen sein können“, überlegt sie. „Ich finde es toll, wie Jansson die Einzelcharaktere herausgearbeitet hat. Es ist wie im echten Leben, auch wenn es eine Fantasiewelt ist.“
Eine, die sich bestens mit Tove Jansson, den Mumins und ihren internationalen Fans auskennt, ist die 83-jährige Autorin Tuula Karjalainen. Sie hat die Künstlerin persönlich gekannt und mit vielen ihrer Weggefährten zusammengearbeitet. Als Kuratorin des Kunstmuseums Atheneum in Helsinki stellte sie die erste große Ausstellung zu Tove Janssons umfangreichen Schaffen als Künstlerin zusammen. Sie schrieb eine Biografie über Jansson und gab Vorträge in Russland und Japan. Ende August veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel „Tove Jansson ja maailman lapset“ – übersetzt aus dem Finnischen: „Tove Jansson und die Kinder der Welt“. Darin widmet sie sich den Fanbriefen, die Jansson geschickt wurden und den Antworten der Autorin. „Tove Jansson antwortete auf jeden Brief“, weiß Tuula Karjalainen. „Ihr schrieben Fans aus Finnland und Schweden, aber auch aus Japan, Deutschland und Frankreich“, berichtet sie im Büro ihres Verlegers in Helsinki. „Viele schrieben ihr in der Pubertät, fragten sie über Liebe und sprachen über Probleme mit ihren Eltern. Manche schrieben ihr sogar Liebesbriefe“, sagt sie mit einem Lächeln.
Erschöpft von den Erwartungen und dem Erfolg ihrer Mumins schrieb Jansson 1970 das letzte Buch „Herbst im Mumintal“. Es markiert das stille Ende der Mumins und ihrer heilen Welt. Jansson wollte sich ihrer eigentlichen Passion – der Kunst – widmen und schrieb später Romane für Erwachsene. „Die japanischen Fans waren höflich und verstanden, warum sie die Mumin-Geschichten beenden musste“, resümiert Karjalainen. „Die schwedischen und finnischen Fans waren sehr fordernd. Sie wollten mehr Geschichten und warfen ihr vor, dass sie das Paradies zerstört hätte.“
Bis zu 2.000 Briefe bekam Tove Jansson pro Jahr, hochgerechnet waren es fast hunderttausend. Sie antwortete bis kurz vor ihrem Tod. „Sie sagte ihren Fans, dass sie keine Briefe mehr schreiben sollten“, so Karjalainen. Heute bekommt die Autorin selbst Briefe von Mumin-Fans, manchmal sind sie zwanzig Seiten lang.
Die Reise durch Finnland und die Begegnung mit Fans und Mumin-Expert:innen zeigt, dass das Mumintal auch lange nach dem Tod seiner Schöpferin weiterlebt. Wie in den liebevoll inszenierten Figuren des Mumin Museums in Tampere, den Installationen des Designmuseums oder den Büchern von Tuula Karjalainen.
Vor allem werden die Mumins in den leuchtenden Augen von Fans wie Keigo oder einem zweijährigen Kind lebendig, das ein Mumintroll-Kuscheltier im Arm hält. Sie alle verbinden andere Geschichten und Lebensweisheiten mit den Mumins. Vielleicht liegt darin ihr Erfolgsgeheimnis: Die Welt des Mumintals ist kindlich und gleichzeitig offen für Menschen jeglicher Herkünfte und Generationen.
Das ist der friedliche Gegenpol zur echten Welt, die jeden Tag ein Stück geschlossener scheint. Wer Trost sucht, kann Mumin-Bücher lesen, Tee trinken und Pfannkuchen essen – nach dem Rezept von Muminmama.
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