Windräder-Lärm im Norden: Schall und Streit
Die meisten Windkraftanlagen in Schleswig-Holstein genügen den Lärmschutz-Vorschriften. Aber die Messmethode wird kritisiert.
Die Überprüfung aller bestehenden Windenergieanlagen im Land war notwendig geworden, weil die Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI) 2017 ihre Berechnungsmethode für den Schallschutz verschärft hat. Also ließ das Land nach der neuen Methode untersuchen, ob Wohnhäuser und Siedlungen dem Lärm von Windrädern zu sehr ausgesetzt sind.
Rund 3.000 Windkraftanlagen gibt es im Land. Knapp 2.600 davon, deren Lärm auf 1.800 Immissionsorte abstrahlt, wurden bisher untersucht. An 121 Immissonsorten war es lauter als erlaubt. „Das Argument, dass der Ausbau der Windenergie mit dem Lärmschutz unvereinbar ist, ist falsch“, folgert Umwelt-Staatssekretär Tobias Goldschmidt. „Wir können das Klima schützen und gleichzeitig Lärmschutz auf hohem Niveau gewährleisten.“
Dem sei mitnichten so, kontert Kirchhof von Vernunftkraft. Denn das Energiewende-Ministerium (Melund) habe die Verschärfungen der LAI zum Teil wieder zurückgenommen, indem es Mess-Abschläge vom Lärm zugunsten der Anlagenbetreiber berücksichtigte. „Die haben lange überlegt, was sie tun können, damit die Betreiber keine Einschränkungen haben“, spekuliert Kirchhof.
In reinen Wohngebieten darf es nachts maximal 35 Dezibel laut sein, in allgemeinen Wohngebieten 40 Dezibel. Tagsüber dürfen die Werte um 15 Dezibel höher liegen.
30 bis 40 Dezibel herrschen in einem leisen Schlafzimmer; 30 Dezibel entsprechen einem Flüstern, 40 Dezibel dem Summen eines Kühlschranks.
Die verschärfte Vorschrift, nach der Schleswig-Holstein die Windenergieanlagen überprüft, schreibt vor, dass der Dämpfungseffekt durch den Boden nicht mehr mit drei Dezibel berücksichtigt werden darf.
Bei der Bewertung bestehender Windkraftanlagen berücksichtigt das schleswig-holsteinische Energieministerium eine Fehlertoleranz von drei Dezibel, weswegen ihr die Initiative Vernunftkraft Trickserei vorwirft.
Im Zentrum des Streits steht der Unterschied zwischen Emissionen, die direkt an der Anlage entstehen und Immissionen, also dem Lärm, der bei den Wohnhäusern ankommt. Das Landesamt für ländliche Räume hat direkt an den Anlagen gemessen und dann berechnet, wie viel Schall bei dem am stärksten betroffenen Wohnhaus ankommt. Die Messung an der Windkraftanlage sei sicherer, weil dort weniger Störgeräusche aufträten als in einer Wohnsiedlung, in der Autos fahren und Rasen gemäht wird, sagt Joschka Touré, Sprecher des Umweltministeriums.
Von dem errechneten Wert zog das Amt als Fehlertoleranz drei Dezibel ab. „Wir müssen als Behörde rechtssicher belegen können, dass die Windkraftanlage den Lärm produziert“, sagt Touré. Denn wenn das Prüfungsergebnis den zulässigen Grenzwert übersteigt, müssen die Anlagenbetreiber handeln, etwa indem sie ihre Anlagen langsamer laufen lassen oder indem sie die Aerodynamik der Flügel verändern.
In den 121 Fällen, in denen der Grenzwert überschritten wurde, hat sich das Ministerium mit den Anlagenbetreibern in Verbindung gesetzt. „Daraufhin wurden in fast allen Fällen die Schallleistungspegel so reduziert, dass die Immissionsrichtwerte bei Überwachungsmessungen eingehalten wurden“, teilt das Ministerium mit. Die übrigen 400 Windkraftanlagen würden bis Ende 2020 untersucht.
Die meisten Bundesländer hätten sich den Altbestand an Windrädern gar nicht angeguckt, sagt Touré. „Wir haben im Sinne der Bürgerinitiative gesagt, wir überprüfen alle Anlagen mit der neuen Berechnungsmethode.“
Diese Methode will die Initiative Vernunftkraft nun anfechten. „Wir haben gerade eine Normenkontrollklage beim Oberverwaltungsgericht in Schleswig eingereicht“, sagt deren schleswig-holsteinische Sprecherin Kirchhof. Dabei gehe es unter anderem um den Abschlag, der nach Ansicht der Initiative nur bei Messungen, nicht aber bei Prognosen angesetzt werden darf.
Unzufrieden mit dem Zwischenbericht zur Überwachung der Windkraftanlagen ist auch der Bundesverband Windenergie. Zwar bestätige der Bericht der schleswig-holsteinischen Landesregierung, dass die Windkraftanlagen auch bei einem verschärften Schall-Prognoseverfahren die gesetzlichen Vorgaben erfüllten, teilt die Landesgeschäftsstelle des Windenergie-Verbandes mit.
Er kritisiert jedoch, dass die schleswig-holsteinische Landesregierung dieses Verfahren auch auf bereits existierende Windkraftanlagen anwendet. Die daraus resultierenden Auflagen stellten einen unverhältnismäßigen Eingriff dar. „Maßgeblich für einen derart massiven Eingriff dürfen nur konkrete Immissionsmessungen am Haus sein“, findet der BWE.
Durch das neue Prognoseverfahren würden Windenergieanlagen nur theoretisch lauter bewertet als bisher, weil sich die Berechnungsmethode geändert habe. Die maßgeblichen Grenzwerte gälten aber unverändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Die Wahrheit
Der erste Schnee