Willy Brandts 100. Geburtstag: „Den müsste er hinauswerfen!“
Noch immer ranken sich um Willy Brandts spektakulären Sturz im Jahre 1974 viele Legenden. Am Mittwoch wäre er 100 geworden.
War Willy Brandt links? Soweit es die Situation zuließ, ja. Typisch ist vielleicht eine Episode, die Egon Bahr einmal im Willy-Brandt-Haus bei der Vorstellung einer Sebastian-Haffner-Biografie erzählte: Wie Willy Brandt dessen umstrittenes Buch über das Versagen der SPD in der deutschen Revolution 1918 sah, wollte der Moderator der Veranstaltung wissen. Na ja, habe Willy Brandt dazu gesagt, so Bahr, der Haffner kann das so schreiben, aber der musste ja nicht regieren!
Links oder nicht links – trotz des Berufsverbotsbeschlusses hat die Kanzlerschaft Brandts von 1969 bis 1974 gezeigt, dass ein sozialdemokratisches Regieren in der Bundesrepublik möglich ist. Mit wachsendem zeitlichen Abstand zu den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur wurden sozialdemokratische Positionen mehrheitsfähig. Dies zeigte auch die Euphorie der „Willy-Wahl“ 1972, als die SPD mit sagenhaften 45,8 Prozent erstmals die stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag wurde.
Doch es sollten, wie Brandt es einmal formulierte, ausgerechnet die „Parteifreunde“ sein, die „mir den Wahlsieg vom 19. November nicht verziehen haben“. Der triumphal im Amt bestätigte Kanzler wurde schon bald systematisch demontiert.
Den anderen SPD-Größen Herbert Wehner und Helmut Schmidt passte die ganze Richtung nicht. Schon dass Brandt im Alleingang die Große Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) 1969 beendete und mit der von Walter Scheel geführten FDP ein Bündnis einging, war für sie ein Unding. Brandts neue Ostpolitik („Wandel durch Annäherung“), aber auch die überfälligen inneren Reformen erzeugten Widerstände.
Nachdem nacheinander die Finanz- und Wirtschaftsminister (Möller und Schiller, beide SPD) hinschmissen und Brandt mitten im Wahlkampf 1972 ohne ökonomisch kompetenten Minister dastand, bat er Helmut Schmidt, beide Ämter zu übernehmen. Der machte jedoch zur Bedingung, dass die Brandt-Vertrauten, Kanzleramtsminister Horst Ehmke und Regierungssprecher Conrad Ahlers, nach der Wahl aus ihren Positionen entfernt würden. Anstatt Schmidt hinter die Deiche zu jagen, ließ sich Brandt in seiner Not auf diese Erpressung ein.
„Willy Brandt muss Kanzler bleiben!“
Die vorgezogene Wahl 1972 war notwendig geworden, nachdem Brandt zwar ein konstruktives Misstrauensvotum der CDU/CSU überstanden, im Bundestag aber keine Mehrheit mehr hatte. Noch im Spätsommer 1972 schien diese Wahl verloren. Doch die Parole „Willy Brandt muss Kanzler bleiben!“ mobilisierte in einmaliger Weise Heerscharen von sozialdemokratischen Wahlkämpfern und Wählern.
Herkunft: 1913 geboren in Lübeck. Gestorben 1992 in Unkel. Geburtsname Herbert Frahm. Uneheliches Kind der Martha Frahm. Noch 1965 wurde ihm im Wahlkampf seine unbürgerliche Herkunft vorgeworfen.
Antifaschist: In der Weimarer Republik Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ). SPD-Mitglied, ab 1931 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ab 1933 Untergrundarbeit gegen die Nazis unter dem Decknamen Willy Brandt. Flucht nach und Exil in Norwegen und Schweden.
Kanzlerschaft: Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik erneut Mitglied der SPD. Regierender Bürgermeister von Berlin, von 1964 bis 1987 SPD-Vorsitzender. 1966 Außenminister in der Großen Koalition mit der Union. Von 1969 bis 1974 Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition.
Helmut Schmidt sah missmutig zu, wie „das öffentliche Bekenntnis außenstehender Bürger“, gemeint waren Schriftsteller wie Grass oder Böll, bei Willy Brandt „zu Irrtümern über die Partei“ führen würden, zumal diese Leute „gar nicht in der Partei“ seien.
Tatsächlich entstand 1972 eine einmalige Dynamik. Willy Brandt liebte Wahlkämpfe. Wie beim vorherigen Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg ging Brandt auch im Herbst an seine körperlichen Grenzen. Er sprach auf bis zu zehn Großkundgebungen täglich. Der Lohn: Die SPD holte mit 45,8 Prozent ihr historisch bestes Ergebnis, und auch die FDP verbesserte sich von unter 6 auf über 8 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei heute unfassbaren 91,1 Prozent.
Die Voraussetzungen für eine weitere Umsetzung des sozialliberalen Reformprogramms schien perfekt. Die Union war in die Schranken gewiesen und würde Jahre brauchen, um sich von ihrer Schlappe zu erholen. Der CDU-Wahlverlierer Barzel musste entsorgt und sein Nachfolger – Helmut Kohl – aufgebaut werden. Im Parlament hatte man eine satte und sichere Mehrheit.
Doch aus dem sozialliberalen Spaziergang wurde nichts. Nach der Wahl musste Brandt an den Stimmbändern operiert werden. Es bestand Verdacht auf Krebs. Er bekam Sprechverbot, und, am schlimmsten, ein striktes Rauchverbot auferlegt. Und so begannen sofort nach der Wahl – ohne Wahlsieger Brandt – die Koalitionsverhandlungen.
Brandts Notizen zum neuen Kabinett schlummerten in Wehners Aktentasche. In seinem Buch „Erinnerungen und Reflexionen“ schrieb Helmut Schmidt 1998 sechs Jahre nach Brandts Tod: „Trotz seines in meinen Augen hervorragenden Wahlergebnisses 1972 fiel Willy Brandt nach dem Wahltag in Resignation und bat Wehner und mich, im Benehmen mit dem Partner FDP das neue Bundeskabinett zusammenzustellen.“
Auftrag Kabinettsbildung
Dieses scheint eine Unwahrheit – Depression statt einer physischen und wahlkampfbedingten Erkrankung –, und sie wird durch andauernde Wiederholung (zuletzt in der Zeit vom 14. November) nicht wahrer. Der Brandt 1974 als Kanzler beerbende Schmidt schrieb dort: „Ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Erfolgs kam die Niedergeschlagenheit: nach dem phänomenalen Wahlergebnis von 1972. Wehner und ich wussten von Brandts Zustand. Er beauftragte uns beide damit, das Kabinett zu bilden. Brandt hat das Kabinett dann so übernommen, wie wir es ihm hingestellt haben.“
Immerhin fügt Schmidt hinzu: „Man hat uns später vorgeworfen, wir hätten die Regierung nach unseren Vorstellungen gebildet. Da ist sicherlich was Richtiges dran, aber Brandt hat es so gebilligt.“ Als Brandt aus dem Krankenhaus kam, fragte er sich, ob er unter diesen Bedingungen überhaupt Bundeskanzler bleiben wolle.
Doch bei Brandt überwogen die Skrupel, die getroffenen Absprachen zu torpedieren. Folglich regierte er mit einem Nebenkanzler Schmidt, der sich innerhalb kurzer Zeit ein ökonomisches Grundwissen angeeignet hatte und entsprechend dozierte, was er im Grunde bis heute tut. Schmidt im Mai im Spiegel über Brandt: „Willy verstand nichts von Wirtschaft. Als der Ölpreis explodierte, nahm er das zuerst nicht zur Kenntnis. Später benutzte er den ostdeutschen Spion Guillaume als Anlass für seinen Rücktritt.“
Schmidt belehrte und kritisierte Brandt im Kabinett und in der Öffentlichkeit dermaßen, dass selbst Genscher einmal der Satz herausrutschte: „Den müsste Brandt hinauswerfen!“
Skandal und Rücktritt
Auch dass Brandt in der Folge der Enttarnung seines persönlichen Referenten Guillaume als Stasi-Spion im Mai 1974 zurücktrat, war alles andere als selbstverständlich. Erst die Handhabung der Affäre durch Innenminister Genscher (FDP) und Verfassungsschutzpräsident Nollau (sowie von Wehner im Hintergrund) ließ Brandt schließlich keinen anderen Ausweg sehen, als entnervt hinzuschmeißen.
Die Zeitbombe Guillaume hatte schon ein knappes Jahr getickt. Nollau und andere konnten die Bombe zünden, wann immer sie wollten. Der Stasi-Spitzel im Kanzleramt – das war der perfekte Skandal, abgestellt in der Vorratskammer und jederzeit abrufbar. Dazu Brandt in seinen „Notizen zum Fall G.“: „Ich Rindvieh hätte mich auf diesen Rat eines anderen Rindviehs nie einlassen dürfen!“ Gemeint als anderes Rindvieh war Genscher.
Im April 1974 war es dann soweit: Guillaume wurde endlich verhaftet. Der DDR-Agent war zwar intern schon im Mai 1973 enttarnt worden, aber auf Betreiben von Verfassungsschutzpräsident Nollau und Innenminister Genscher im Kanzleramt verblieben. Um ihn, wie es nachher hieß, auch wirklich gerichtsfest überführen zu können.
Brandt hatte die Gefahr ignoriert, und dem „lahmen“ (so Arnulf Baring) Kanzleramtschef Horst Grabert (Nachfolger des von Schmidt hinausbeförderten Ehmke) fehlte jede Intuition für die drohende Katastrophe. Ehmke hätte wohl gewusst, was zu tun ist. Er selbst hatte Guillaume einer peinlichen Befragung unterzogen, da es schon zu Beginn der sozialliberalen Koalition Verdachtsmomente gegen Guillaume gegeben hatte.
Wäre Ehmke Kanzleramtsminister geblieben – wie es Brandt wollte und Schmidt verhindert hatte –, hätte er Guillaume wohl 1973 höchstpersönlich und mit anderer Dramaturgie auf die Straße gesetzt.
Thorsten Körner: „Die Familie Willy Brandt“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 510 S., 22,99 Euro. Neben dem Buch von Brandt-Sohn Peter ein Versuch, den Politiker über das Familien- und Privatleben einzufangen. Durchaus faszinierend.
Hans Joachim Noack: „Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert“. Rowohlt, Berlin 2013, 351 S., 19,95 Euro. Der frühere
SZ-, FR- und Spiegel-Journalist legt eine gut lesbare Biografie vor, die zu Brandts Verächtern wie Verehrern gleichermaßen Abstand hält.
Willy Brandt, Günter Grass: „Der Briefwechsel“. Steidl Verlag, Göttingen 2013, 1230 S., 49,80 Euro. Etwas sperrig, aber hochinteressant. Grass schreibt und Brandt antwortet oft nicht.
Egon Bahr: „Das musst du erzählen. Erinnerungen an Willy Brandt“. Propyläen Verlag, Berlin 2013. 240 S., 19,99 Euro. Tolles Buch. Bahr war ein enger Mitarbeiter Brandts und ist selbst eine Legende.
Ein Frauenheld
Versäumte man also absichtlich, Guillaume in den folgenden Monaten von Staatsgeheimnissen fernzuhalten, um genau das Willy Brandt später vorwerfen zu können? Aufgeblasen wurde die Affäre durch die Bundesanwaltschaft und die Befragungen der Personenschützer Brandts. Bei denen ging es darum, von wie vielen „Frauengeschichten“ Guillaume Kenntnis habe.
Mit anderen Worten: Die Behörden und Dienste, die im Fall Guillaume krass versagt hatten, waren nun eifrig bemüht, einen „saufenden und depressiven“ Kanzler als pflichtvergessenen Frauenheld darzustellen.
In dieser trüben Geschichte endete die Kanzlerschaft des Hoffnungsträgers einer Generation, des ersten linken Kanzlers der Bundesrepublik. Der 1992 verstorbene Brandt würde am Mittwoch seinen 100. Geburtstag feiern. Noch immer gibt es um die Umstände seines Sturzes als Kanzler reichlich Aufklärungsbedarf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut