Wildtiere und der Corona-Lockdown: Von Kojoten und Chaoten
Angeblich sind wegen des Corona-Lockdowns mehr Wildtiere in Städten unterwegs. Expert:innen sind skeptisch und verweisen auf Fake News.
„Tauben sind Körnerfresser, keine Menschenfresser“, sagt Derk Ehlert, Wildtierexperte des Berliner Senats. Anders als manche Tierschützer:innen macht er sich kaum Sorgen: „Wir haben sogar den Eindruck, dass derzeit mehr als sonst gefüttert wird, nur eben an anderen Stellen – und sei es am Fenster.“ Auch für andere Kulturfolger gelte: Selbst wenn einzelne Tiere jetzt längere Zeit litten, sei nicht gleich die ganze Population in Gefahr.
Insgesamt gibt es durch Corona weniger Veränderungen in der Natur als beim Menschen selbst, glaubt Derk Ehlert. Unsere Wahrnehmung sei momentan eine andere, viele Beobachtungen stark subjektiv gefärbt. Vielleicht erklärt das, wie die wilden Berichte über Tiere in Innenstädten zustande kommen. Ein Video mit Delfinen in Venedigs Kanälen – zugegebenermaßen eine romantische Vorstellung – entpuppte sich als Aufnahme aus dem Hafen der sardinischen Stadt Cagliari. Auch viele weitere Berichte erwiesen sich als falsch – zumindest aber dramatisch ausgeschmückt oder verzerrt dargestellt.
Es stehe sicher keine böse Absicht hinter solchen Fake News, sagt die Expertin für Stadtnatur beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Afra Heil. Eher Unwissen: „Oft wird Natur nicht mit Stadt in Verbindung gebracht, aber für Wildtiere gibt es keine klare Grenze, die waren auch vorher schon da.“ Selbst Pumas, ergänzt Derk Ehlert, lebten schon lange in der Umgebung der chilenischen Hauptstadt und seien auch vorher schon in die Stadt gekommen. „Das passiert gerade öfter, weil es ruhiger ist und der Müll nicht abgeholt wird.“ Auch von Kojoten in New York oder San Francisco hätten die Medien schon berichtet, das habe man dann wieder vergessen. „So schnell wandern Wildtiere nicht neu in Städte ein, bei größeren Arten dauert das Jahrzehnte“, so Ehlert.
Vorsichtiges Herantasten
Dass bereits anwesende Tiere ihr Verhalten temporär ändern, ist hingegen wenig überraschend. Wie Stephanie Kramer-Schadt vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) erklärt, wägen Tiere stets zwischen vom Menschen ausgehenden Gefahren und Anreizen ab, beispielsweise Verkehr vs. Futter. Es könne durchaus sein, dass eine laufende Kamerafallen-Studie in Berlin vor allem für die Nacht veränderte Aktivitätsmuster zeigen werde. Von „Eroberungen“ zu sprechen, sei jedoch übertrieben: „Das klingt fast, als herrsche Krieg“, so Kramer-Schadt. Vielmehr handele es sich um ein vorsichtiges Herantasten, ob die neuen menschenleeren Areale als Lebensraum taugen.
„Diese Effekte sind in anderen Ländern sicher stärker, wo die Ausgangssperren rigoroser gehandhabt werden als in Deutschland“, sagt Kramer-Schadt. Laut dem französischen Büro für biologische Vielfalt (OFB) hat das neben Vorteilen – weniger überfahrene Tiere auf den Straßen oder der Fortpflanzung seltener Arten förderliche Ruhe – auch seine Schattenseiten. So wirke sich die erzwungene Unterbrechung von Aktionen zur Unterstützung gefährdeter Arten oder zur Bekämpfung invasiver Arten eher nachteilig aus. Der britische Guardian berichtete, dass die zuletzt auch anderswo vermehrt gesichteten Ratten in Neuseeland zur Gefahr werden. Da die dortige Regierung Kammerjäger:innen nicht als systemrelevant einstuft, sind demnach die besonders fragilen Insel-Ökosysteme mit vielen nur dort vorkommenden Arten in Gefahr.
Noch mehr Menschen in Parks
Zumindest in Deutschland könnten es Wildtiere in der Stadt momentan sogar noch schwerer haben als ohnehin schon. Denn Parks und Wälder werden während der Corona-Pandemie viel intensiver genutzt. In Berlin seien mindestens doppelt so viele Menschen unterwegs wie sonst, weiß Senatsmitarbeiter Ehlert. Dadurch komme es zwangsläufig zu häufigeren Begegnungen mit Tieren, vor allem wenn Ausflügler:innen einsame Ecken aufsuchten und die Wege verließen. Das könnte auch in anderen Ländern mit zunehmenden Maßnahmen-Lockerungen passieren: „Es wird ein Bedürfnis nach Natur und eine Überfüllung geben, die für Flora und Fauna ungünstig sein kann“, warnt OFB-Regionaldirektor Rieffel.
Andererseits, findet Derk Ehlert, sei es gut, dass die Leute mehr Zeit und einen wacheren Blick haben: „Selbst Allerweltsarten werden plötzlich wahrgenommen, von manchen zum ersten Mal“. Viele Beobachtungen würden im eigenen Kiez oder Garten gemacht. Selbst der kleinste Balkon oder ein Blick aus dem Fenster kann in diesen Wochen besondere Bedeutung bekommen. „Die Menschen merken, wie wertvoll Stadtnatur ist“, sagt Afra Heil vom BUND. Kein Wunder also, dass Wildtiermeldestellen und Naturschutzverbände mehr Anfragen als sonst verzeichnen. Manche Leute fragten beispielsweise, ob es stimmt, dass die Vögel jetzt lauter singen. „Vielleicht wirkt es so, weil weniger Verkehr ist?“, überlegt Heil.
Viele Anekdoten, wenig Studien
Tatsächlich wäre es logischer, wenn Vögel jetzt leiser wären. Es ist bekannt, dass viele Arten bei Lärm lauter singen – Wissenschafler:innen konnten sogar zeigen, dass sie wohlhabendere und ruhigere Viertel bevorzugen. Gestresste Stadtvögel singen normalerweise auch zu etwas anderen Tageszeiten und in höherer Frequenz als auf dem Land. Es kann also durchaus sein, dass ihr Gesang wegen der momentanen Ruhe anders erschallt als sonst.
Letztlich wird das Corona-Verhalten von Wildtieren wohl Gegenstand mancher Spekulation bleiben – Anekdoten gibt es viele, Studien bisher keine. Expert:innen sind sich aber größtenteils einig, dass die meisten ökologischen Effekte auf lange Sicht zu vernachlässigen sind, wenn bald alles wie gewohnt weitergeht. Kurzfristig leere Straßen, klare Flüsse und saubere Luft halten Klimawandel und Artensterben nicht auf. Relevanter findet Afra Heil daher die Frage, was nach der Corona-Krise kommt. Man müsse langfristig auf eine naturverträgliche Gesellschaft hinarbeiten. Das könne man durchaus auch auf urbane Gegenden anwenden, so Heil.
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