Wilde Möhre 2021: Jung, männlich, unnötig
Selbst auf einem linksgrün angehauchten Festival entkommt man patriarchalischem Machogehabe nicht. Hier ein paar Tipps für übergriffige Stehpinkler.
Das Wahltagebuch beleuchtet die Bundestagswahl und Gesellschaft aus Sicht des Wahl-Camps der taz Panter-Stiftung.
Das Problem des klassischen alten weißen Mannes beginnt mit jungen weißen Männern, die auch noch nicht gelernt haben, sich zu benehmen. Dass man im Alltag einem solchen Auftreten nicht entkommen kann, ist Standard.
Dass man aber selbst auf einem linksgrün angehauchten Musikfestival wie der Wilden Möhre, einem vermeintlichen Safe Space, dem patriarchalen Machogehabe nicht entkommt, ist dringend änderungsbedürftig. Männlichsein ist kein Freifahrtschein für unnötiges Verhalten. Falls du dich nicht angesprochen fühlst, hier ein paar Tipps, die du dir bitte einprägst, denn du bist wahrscheinlich Teil des Problems.
Das Leben ist kein Brüllkonzert
Zum einen ist da die Zurschaustellung deiner vermeintlichen Maskulinität, die sich ausschließlich in einer Gruppensituation in Form von besoffenem Gebrüll ausdrückt. Auf einem Festival wird getanzt. Und bei 2.700 Menschen auf engem Raum wird es eng. Während sich die meisten Menschen auf der Tanzfläche dem DJ zuwenden und für sich allein die Musik genießen, brauchst du nicht in deiner muskelbepackten Vierergruppe laut grölen und das Bier überall hin spritzen. Wir sind nicht im Affenkäfig und auch nicht im Fußballstadion.
Als Nächstes gibt es den Stolz der Regelverweigerung. Der Gedanke dahinter ist klar: ja, du bist im Urlaub, ja, du willst dem Alltag entkommen, und ja, du bist jung und die Pandemie juckt dich nicht, und ja, Rebellion gegen das System ist cool und so weiter. Aber es gibt nichts, das noch mehr unsexy ist, als ein Typ, der auf der Tanzfläche vom Personal gebeten wird, die Maske aufzuziehen, nickt, wartet, bis das Personal weiterzieht, mit dem Kumpel lachend den Kopf schüttelt und weitertanzt. Ohne Maske.
Und noch schlimmer ist es, wenn du dich zu mir umdrehst und weiterhin ohne Maske dein Mund an mein Ohr hältst und mich anbrüllst, ob ich wüsste, wo man sich hier Tattoos stechen lassen kann.
Dass du besoffen bist, ist übrigens keine Ausrede für unverschämtes Verhalten. Du brauchst Wasser, okay, komm, setz dich hin und nimm die Flasche. Ich will nicht, dass du dehydrierst. Du musst aber nicht noch unseren Proviant durchwühlen und von allem, was dir gefällt, ein Stück abbeißen. Meinetwegen reiß dir ein Stück ab, aber mit deinem Geifer wollen wir nichts zu tun haben. Wir lassen uns nicht umsonst täglich testen.
Besoffen und barbarisch
Dass du im Stehen pinkeln kannst, wissen wir. Das brauchst du nicht zur Schau stellen. Schon gar nicht am Zeltplatz. Dass dir das vollurinierte Nachbarszelt egal ist, und du hinter deinem Auto deinen absoluten Lieblingsspot zum Pinkeln gefunden hast, mag ja so sein. Aber du bist kein Hund. Das Gebüsch ist keine zehn Meter weit entfernt. Diese paar Schritte kannst du ruhig gehen, die Bewegung hilft gegen den Kater am Morgen.
Wenn wir uns nett unterhalten, bleibt es bei einer netten Unterhaltung. Es gibt nichts Lustiges daran, mir an den Hintern zu fassen. Wenn ich sage, du solltest das lassen, hast du dich gefälligst dran zu halten.
Bevor du auf das Festival fährst, schau zweimal in deinen Kleiderschrank und überlege, ob das Tanktop, das du einstecken willst, wirklich lustig ist. Oder noch besser: Überlege bereits beim Kauf eines Shirts, ob das Motiv lustig ist. Dass du Kanye West Fan bist, ist deine Sache. Aber ein Tanktop, das vier Himmelsrichtungen zeigt, das bis auf den Westen ostasiatische, arktische und südamerikanische Stereotypen zeigt, ist hart ungeil. Dass mich dein Kumpel auch noch fragt, wie ich das Shirt finde, beweist, dass ihr beide so gar nichts gecheckt habt.
Abklatsch der MTV
Übrigens musst du nicht unbedingt Partygast sein, um unnötig zu sein. Das geht auch super als DJ. Zum Beispiel, indem du bei 14 Grad Außentemperatur ein Strip Girl in Bikini im Hintergrund hüpfen lässt. Dass du unsicher bist, ob uns die Musik gefällt, kann ich verstehen. Leider werten halbnackte Backgroundmädels deine Musik nicht auf – weder in Musikvideos, noch auf der Bühne. Im Gegenteil.
Die Darstellung konstanter sexueller Verfügbarkeit von Frauen führt zuerst zu dummen Sprüchen, dann zu Grenzüberschreitungen und letztendlich zu Übergriffen und Verbrechen. Lass das also lieber sein.
Und zuletzt an die wütenden Männer, die sich provoziert fühlen – ja, du. Für dich vielleicht unglaublich, aber zum Glück wahr: es gibt auch Typen, die sich nicht von meinem Text provoziert fühlen, die stattdessen lachen und mitfühlen und nicken können, weil sie genau wissen, dass es dich gibt. Wenn du also noch nicht über meinen Text lachen kannst, wird’s höchste Zeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag