: Wie viel Schmerz muss sein?
Mit dem Finger gegen die Nasenscheidewand: Die Polizei nutzt Schmerzgriffe, um Sitzblockaden aufzulösen. Jurist:innen sehen Verstöße gegen die Menschenwürde

Von David Muschenich
Geschrei, Gezerre, Schläge, sitzende Demonstrant:innen und behelmte Polizist:innen. Es ist unübersichtlich auf der Kreuzung in der Dresdener Innenstadt, als sich eine geöffnete Hand über das Gesicht von Mila Linde legt und fest zudrückt.
An diesem 15. Februar, einem Samstag, haben sich mehrere hundert Menschen auf die Straße gesetzt, auch Linde. Sie wollen einen der größten Aufmärsche von Neonazis in Europa blockieren, den sogenannten „Gedenkmarsch“, 80 Jahre nachdem die Alliierten im Zweiten Weltkrieg Dresden bombardierten. Schätzungsweise 2.000 Neonazis und andere Rechtsextreme zogen in diesem Jahr durch die Stadt, etwa doppelt so viele Menschen protestierten dagegen.
Um die Demonstrationsfreiheit der extremen Rechten durchzusetzen, räumt die Polizei in Dresden die antifaschistischen Sitzblockaden. Bevor die Beamten bei ihr sind, überlegt Mila Linde kurz, selbst aufzustehen, doch entscheidet sich dagegen. Der Neonaziaufmarsch soll es so schwer wie möglich haben. Aber wenn die Polizei sie wegträgt, will sie sich nicht wehren, so erzählt es Linde wenige Tage danach der taz am Telefon. Eigentlich heißt sie anders, möchte aber anonym bleiben, um nicht ins Visier der Polizist:innen zu geraten.
Irgendwann sind die Beamt:innen bei ihr. Sie heben Linde vom Asphalt. Aber was dann kommt, daran erinnert sich Linde nur bruchstückhaft: Eine Hand in ihrem Gesicht, starker Druck auf ihrem Kiefer, ihrer Schläfe, von beiden Seiten. „Wie genau, da bin ich nicht sicher“, sagt sie. „Da war überall einfach nur Schmerz.“
Was Linde beschreibt, klingt nach einer „Nervendrucktechnik“, wie es bei der Polizei heißt. Sie selbst nennt es „Schmerzgriff“.
Beide Bezeichnungen meinen grob gesagt dasselbe: Handgriffe, die meist aus dem Kampfsport stammen und die Teile der Polizei als Zwangsmittel einsetzen. Beamte drücken dann etwa mit den Fingern von unten gegen die Nasenscheidewand oder auf die Lymphknoten. Zum Einsatz kommen die Techniken bei Festnahmen oder wenn die Polizei, wie im Fall von Linde, Sitzblockaden räumt. Der Schmerz soll Betroffene etwa dazu bringen, sich selbstständig aus einer Sitzblockade zu entfernen.
Ob die Polizei das darf, ist strittig. Rechtswissenschaftler:innen mahnen, Schmerzgriffe seien unverhältnismäßig, es fehle an gesetzlichen Grundlagen, und Griffe, die nur Schmerzen erzeugen, verletzten Menschenrechte. Manchmal fällt sogar das Wort „Folter“. Aber juristisch eindeutig ist die Situation nicht.
Zwei Verwaltungsgerichte haben sich in diesem Jahr mit Klagen gegen sogenannte Schmerzgriffe beschäftigt und kamen zu unterschiedlichen Urteilen. Das Amtsgericht Ansbach wies im Februar eine Klage ab, das Berliner Verwaltungsgericht erklärte einen Monat später die Anwendung der Technik in einem anderen Fall für unverhältnismäßig. Beide Male hatten Klimaaktivisten dagegen geklagt, dass sie mithilfe von Schmerzgriffen aus einer Sitzblockade entfernt wurden.
In Dresden gittert die Polizei an dem Tag im Februar, als Mila Linde gegen die Rechtsextremen demonstriert, schon früh am Morgen Teile der Innenstadt für den Straßenverkehr ab. Zwischen den Neonazis und den Gegendemonstrant:innen stehen überall Beamte, laut Innenministerium sind mehr als 2.000 von ihnen aus neun Bundesländern im Einsatz. Insgesamt verläuft der Polizeieinsatz ruhig. Trotzdem ist Mila Linde nicht die Einzige, die der taz danach von Griffen berichtet, die vor allem Schmerzen verursachen.
Valide Zahlen gibt es nicht. Auch der Griff in Mila Lindes Gesicht wird in keiner Datenbank auftauchen. Zwar hält sie ihn für unverhältnismäßig, aber rechtlich dagegen vorgehen? „Das ist aussichtslos“, glaubt die Aktivistin. Die Gefahr sei größer, dann selbst ein Verfahren am Hals zu haben. Ähnlich äußern sich auch andere Betroffene gegenüber der taz.
Aber nicht nur Zahlen, auch eine umfassende rechtliche Bewertung der Technik fehlt. Dorothee Mooser hat im Jahr 2021 eine Doktorarbeit zum Thema vorgelegt. Es ist eine der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zu dem Thema. In ihrer Untersuchung kam Mooser zu dem Schluss: „Nervendrucktechniken stellen eine unzulässige Maßnahme der Polizei dar und können gegen Menschenrechte verstoßen.“
Den Protest gegen den „Gedenkmarsch“ der Neonazis in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden begleitete unter anderem die Linke-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel als parlamentarische Beobachterin. Bei einer der Blockaden hatten sich rund 200 Menschen auf die Straße gesetzt. Alle blieben zunächst auf dem Asphalt, als die Polizei sie aufforderte, zu gehen. Dann begannen die Beamten, Aktivist:innen aus der Blockade zu ziehen. Dabei kündigten sie Schmerzen an, drückten in Gesichter und verdrehten Arme. Nur die wenigsten standen von selbst auf.
Filmaufnahmen belegen: Während die einen offenbar ohne Schmerzen abgeführt wurden, heulten andere laut auf. Mit verzerrtem Gesicht presste eine Person unter lautem Schluchzen hervor: „Ich laufe ja schon!“ Die Brille war ihr unter die Nase gerutscht. Zwei Beamte überdehnten sichtlich ihre Handgelenke, während sie sie von der Blockade wegführten. „Fast geschafft“, sagte einer in beruhigendem Ton. Daraufhin ertönte ein weiteres Heulen.
Nagel erkundigte sich zwei Tage später in einer Kleinen Anfrage an die Landesregierung, inwieweit die Polizei Nervendrucktechniken oder Schmerzgriffe angewendet habe. Innenminister Armin Schuster (CDU) antwortete: Die Blockierer:innen hätten sich aneinander festgehalten oder untergehakt. In solchen Fällen sei Wegtragen nicht möglich, deshalb sei der „gezielte und kurzfristige Einsatz von Schmerzreizen“ notwendig gewesen. Das sei verhältnismäßig.
Ähnlich äußert sich auch die verantwortliche Polizeidirektion Dresden gegenüber der taz zu dem Einsatz. Grundsätzlich gelten demnach „die strengen Maßstäbe“ der Verhältnismäßigkeit. Die anwesenden Beamten würden jeweils prüfen.
Juliane Nagel zweifelt an der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes in Dresden. Einzelne Beamte seien „rabiat“ gegen die Aktivist:innen vorgegangen, „und unterließen die Griffe auch nicht, als Protestierende intensiv auf Schmerzen hinwiesen“, kommentiert die Landtagsabgeordnete. Die Sitzblockade habe sich friedlich verhalten.
Doch wie ist das mit der Verhältnismäßigkeit von Schmerzgriffen?
Das Berliner Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil eine Antwort auf diese Frage geliefert. Sofern die Beamt:innen Sitzblockaden mit anderen Mittel auflösen könnten, seien Nervendrucktechniken nicht verhältnismäßig.
Geklagt hatte der 21-jährige Klimaaktivist Lars Ritter. Im April 2023 hatte er sich mit etwa 40 Aktivist:innen der Letzten Generation auf eine Straße gesetzt, um den Autoverkehr zu blockieren. Videos zeigen, wie ein Polizist Ritter warnte, wenn er nicht selbstständig aufstehe, werde er tagelang nicht schmerzfrei kauen und schlucken können. Als der Klimaaktivist ungerührt sitzenblieb, griff der Beamte unter seinen Kiefer, drückte, ein zweiter Polizist verdrehte Ritters Arm. Der schrie. Am Ende trugen die Beamten den Aktivisten am verdrehten Arm und an den Beinen von der Straße.
Ritter klagte dagegen und bekam recht. Im Urteil heißt es, es seien genug Einsatzkräfte vor Ort gewesen, um Ritter einfach wegzutragen. Das wäre ein milderes Zwangsmittel gewesen. Der Aktivist habe sich nicht gegen die Polizei gewehrt. Trotzdem betonte der vorsitzende Richter Wilfried Peters laut Medienberichten bei der mündlichen Urteilsverkündung, das Urteil könne nicht verallgemeinert werden. An der Zulässigkeit von Schmerzgriffen bestünde „kein Zweifel“. Die Schmerzen bei Nervendrucktechniken, so der Richter weiter, seien nicht der eigentliche Zweck, sondern Mittel zum Zweck.
Dass Schmerzen bei Nervendrucktechniken nicht der Zweck sind, sieht Hannah Espín Grau anders. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht der Goethe-Universität Frankfurt und forscht zu Gewalt bei Polizeibeamten. Während etwa bei Hebelgriffen der Schmerz als Nebenprodukt entstehe, seien bei „Nervendrucktechniken der Schmerz die eigentliche Maßnahme“, sagt sie. Und genau das sei juristisch problematisch, denn die Maßnahme lasse sich damit nur bedingt unter die Regeln des unmittelbaren Zwangs fassen. Die betroffene Person gehe nicht durch den Schmerz an sich weg, sondern aus Angst vor weiteren Schmerzen. „Deshalb lässt sich diskutieren, ob diese Gewalt im Einzelfall eine Form der Folter oder der unmenschlichen Behandlung darstellt.“
Ein weiteres Problem, das Espín Grau kritisiert: Die Nervendrucktechniken trügen dazu bei, dass Polizist:innen Gewalt als normal wahrnehmen. Die Schmerzen würden durch wenig Kraftaufwand erzeugt, und die Griffe hinterließen wenige sichtbaren Folgen. Entsprechend niedrig sei die Hürde. Doch entgegen der polizeilichen Wahrnehmung sei der Schmerz massiv und damit auch die Gewaltanwendung.
Und die Griffe wirkten zudem nicht nur auf die betroffenen Aktivist:innen, gibt Sarah Ahmad zu bedenken. Sie arbeitet an der Universität Tübingen als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Staatsrecht, Völkerrecht, Verfassungslehre und Menschenrechte und beschäftigt sich mit der Rechtmäßigkeit von Schmerzgriffen im versammlungsrechtlichen Kontext. Bürger:innen fühlten sich in der Folge von weiteren politischen Versammlungen abgeschreckt. Dieser „chilling effect“ sei eine Folge, „die in einem menschenrechtskonformen Gemeinwesen nicht eintreten darf“, erklärt Ahmad.
Über die Proteste in Dresden und was sie dabei erlebt hat, hat Mila Linde in den Tagen danach mit Bekannten gesprochen. Zum Verarbeiten. Manche waren mit ihr in Dresden, andere nicht. Sie glaube, es sei wichtig, nicht abzustumpfen, aber trotzdem handlungsfähig zubleiben.
Ob sie nächstes Jahr wieder versucht, die Neonazis in Dresden zu blockieren? „Wenn’s irgendwie möglich ist, ja.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen