Wie (nicht) über Moria gesprochen wurde: Dem Bundestag nicht der Rede wert
Deutsche Abgeordnete scherten sich bis zum Brand im Geflüchtetenlager Moria kaum um die Menschen dort. Das zeigt eine taz-Analyse.
Zu diesem Zeitpunkt befinden sich rund 12.000 Menschen in dem maßlos überfüllten Lager auf der griechischen Insel, unter ihnen 4.000 Kinder. Unruhen, Polizeibrutalität und immer wieder auch Tote prägten das Bild eines Lagers, das die Geflüchteten vor Ort als Gefängnis bezeichnen. Und nur wenige Wochen nach der Pressekonferenz werden in Moria die Zelte und das letzte Hab und Gut der Menschen brennen, die dort seit Jahren ausharrten.
Ihr Schicksal scherte die Abgeordneten im Bundestag vor dem Brand fast gar nicht, wie eine Untersuchung der taz zeigt – und auch Merkel äußerte sich monatelang kaum zu dem Thema. Mithilfe des Datensatzes ParlSpeech hat die taz alle Reden analysiert, die in der laufenden Legislaturperiode im Bundestag gehalten wurden. Dafür wurden die Dokumente automatisiert danach gefiltert, wie oft sie die Worte „Lesbos“ und „Moria“ enthielten.
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Vor dem Brand Anfang September wurde in rund drei Jahren und bei über 700.000 gefallenen Sätzen im Bundestag das Lager lediglich 39 Mal direkt angesprochen. Wenn überhaupt, dann waren es die Abgeordneten von Linken und Grünen, die die Situation auf Lesbos erwähnten. Rund 18 Mal sprachen die Linken das Lager an, 11 Mal die Grünen. Am wenigsten redeten FDP und Union über Moria: Vor dem Brand nahmen beide Fraktionen lediglich zweimal die Worte Lesbos oder Moria in den Mund.
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Lediglich im März dieses Jahres fielen die Begriffe immerhin 18 Mal: Die Grünen hatten eine Diskussion darüber losgetreten, ob die Bundesregierung nicht wenigstens 5.000 besonders Schutzbedürftige aus griechischen Lagern nach Deutschland evakuieren könne. Immerhin 500 durften tatsächlich kommen. Danach aber verschwand das Thema wieder fast vollständig aus den Reden der Bundestagabgeordneten.
Zwar ist denkbar, dass die Abgeordneten das Camp indirekt ansprachen. Weiterführende Stichproben mit Begriffen wie „Flüchtlingslager“, „Camp“ oder „Insel“ ergaben zwar etwas mehr Treffer, bestätigen allerdings den Trend: Bis zum Brand haben sich die meisten Abgeordneten in ihren Reden kaum mit den Menschen in Moria beschäftigt.
Auch Kanzlerin Angela Merkel äußerte sich nur äußerst selten zu Moria: In all den Reden, Pressekonferenzen, Interviews und Regierungserklärungen, die auf ihrer Website genauestens dokumentiert werden, hat die Bundeskanzlerin in diesem Jahr vor dem Brand lediglich sechsmal über die Geflüchteten in Griechenland gesprochen.
Nach dem Brand rückte das Thema dann kurzzeitig in den Fokus der Öffentlichkeit – und plötzlich interessierten sich auch die Abgeordneten für das Lager, ganze 126 Mal war allein im September auf einmal von der Situation auf Lesbos die Rede.
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Auch Fraktionen, die sich davor besonders schweigsam gegeben hatten, äußerten sich plötzlich. Sogar die AfD erwähnte im Monat des Brands das Lager 19 Mal – wobei die Rechten in ihren Beiträgen vor allem darum bemüht waren, sich gegen die Aufnahme der obdachlosen Geflüchteten zu stellen.
Angela Merkel griff das Thema nach dem Brand ebenfalls auf. So sagte sie etwa während einer Veranstaltung der Konrad Adenauer-Stiftung, die Situation in Moria zeige „wie in einem Brennglas, die ganze Problematik der Migration, mit der wir uns seit 2015 beschäftigen“.
So schnell die Zahl der Reden zu Moria nach dem Feuer hochschossen, so schnell verschwand das Thema anschließend allerdings auch wieder aus dem Bundestag. In den folgenden Wochen gab es erneut nur eine Handvoll von Erwähnungen. Die Geflüchteten in Moria: Für die meisten Abgeordneten war das kein Thema mehr.
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Immerhin hat die Bundesregierung Merkels Worten aus dem September einige konkrete Taten folgen lassen: Die GroKo hat angekündigt, rund 1.500 der Bewohner*innen von Moria nach Deutschland holen zu wollen – zumindest einige sind mittlerweile auch hier angekommen.
Die anderen Geflüchteten müssen weiter auf eine europäische Lösung warten. Der Großteil von ihnen sitzt nun in anderen Lagern in Griechenland fest. Die Bedingungen dort, das geht etwa aus Berichten der Nichtregierungsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ hervor, sind teils noch schlimmer als sie es in Moria waren.
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