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Seit November haben sich Hunderttausende den Protesten angeschlossen Foto: Kirill Zykov/imago

Widerstand in SerbienDas serbische Protest-Alphabet

Seit Monaten protestieren Serbiens Studierende. Dabei haben sie ihre eigene Sprache erschaffen – mit Ironie, sprachlicher Finesse und politischem Ernst.

V or knapp fünf Monaten riefen Studierende in Serbien zu Protesten gegen Korruption auf, nachdem am 1. November das Bahnhofsvordach in Novi Sad eingestürzt war, wobei inzwischen 16 Menschen starben. Seitdem haben sich Hunderttausende den Protesten angeschlossen. Die sind aber nicht nur ein politischer Aufbruch, sondern auch die perfekte Gelegenheit, die 30 Buchstaben des serbischen Alphabets zu lernen. In Serbien wird in kyrillischen und lateinischen Buchstaben geschrieben, wobei jeder Buchstabe eine Entsprechung in der anderen Schrift hat.

A wie Autokomanda

Zentraler Verkehrsknotenpunkt in Belgrad, wurde Ende Januar für 24 Stunden besetzt.

Б wie Blokada

Die Fakultäten sind seit Monaten besetzt, also blockiert. Die Studierenden treffen ihre Entscheidungen basisdemokratisch in Plena, wo alle Mitspracherecht haben. Das ist genauso anstrengend, wie es klingt, funktioniert aber erstaunlich gut.

Ц wie Cilj

Ein Ziel ist, dass alle Dokumente zum Einsturz des Bahnhofs in Novi Sad offengelegt und die Zuständigen zur Verantwortung gezogen werden. Im Kern fordern die Studierenden: Rechtsstaat statt Korruption, funktionierende Institutionen statt Machtmissbrauch.

Ч wie Član

Mitglied. Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) hat davon laut eigenen Angaben um die 800.000, wobei Serbien nur 6,6 Millionen Einwohner hat. Jobs beim Staat, bei staatsnahen Unternehmen oder bei von Staatsaufträgen abhängigen Unternehmen (also fast alle) werden nach Loyalität zur Partei vergeben. Extrem korrupt. Die SNS ist assoziiertes Mitglied der Europäischen Volkspartei, zu der auch CDU und CSU gehören. Parteifunktionäre werden inzwischen vielerorts vom wütenden Volk mit Eiern beworfen.

Ћ wie Ćaci

Ein Begriff für regierungstreue Fake-Studenten, die sich als Protestgegner inszenieren, aber oft als SNS-Funktionäre entlarvt werden. Der Begriff entstand, weil jemand an die Wand des Jovan-Jovanović-Zmaj-Gymnasiums in Novi Sad schreiben wollte: „Schüler zurück in die Schulen“ und den ersten Buchstaben falsch schrieb. Đaci heißt auf Serbisch „Schüler“, Ćaci heißt gar nichts, hat sich nun aber als Begriff etabliert. Natürliches Habitat: Ćacilend. Ein Zeltlager, das sie im Regierungsviertel errichtet hatten.

Д wie Dinstanje

Wörtlich übersetzt „dünsten“, war die Antwort des Soziologieprofessors Jovo Bakić auf die Frage, was jetzt auf den großen Protest vom 15. März folgt. Das Gericht sei gekocht, werde nun aber noch geräuchert oder geschmort. Soll so viel heißen wie weitermachen, ausdauernd bleiben, mit Geduld zum Ziel kommen.

Џ wie Džep

Hosentasche. Wo Funktionäre der SNS hineinwirtschaften.

Studierende laufen und fahren mit dem Fahrrad durch ganz Serbien zu den gemeinsamen Großprotesten Foto: Pavel Nemecek/imago

Ђ wie Đilasi

Abwertender Begriff in den Regierungsmedien für alle Regierungsgegner, die mit dem Oppositionspolitiker Dragan Đilas in Verbindung gebracht werden, auch wenn sie nichts mit ihm zu tun haben. Vučić verachtet ihn besonders, weil er mehrfach die Bürgermeisterwahl in Belgrad gegen ihn verloren hat. Đilas wurde in den 1990er Jahren als Gesicht der Studierendenproteste gegen Milošević bekannt. Die Studierendenproteste heute haben keine führenden Gesichter, was eine bewusste Strategie ist.

Е wie Evropska Unija

Staatenunion, die behauptet, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stehen, sich aber nicht hinter die Proteste für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Serbien stellt. Also stellen sich die Demonstrierenden in Serbien auch nicht hinter EU-Flaggen.

Ф wie Ferrari

Die Flagge mit dem Logo des italienischen Sportwagenherstellers darf bei keiner Demo fehlen. Das schwarze Pferd auf gelben Grund tauchte zum ersten Mal bei den Protesten gegen Slobodan Miloševićs Wahlbetrug im Jahr 1996 auf. Einige Quellen behaupten, Ferrari sei ein Zeichen von Weltoffenheit und Freiheit gewesen, andere sagen, ein Schumi-Fan habe die Flagge mitgebracht, damit er und seine Freunde sich leichter im Protestgetümmel fänden. Einig ist man sich darin, dass die Flaggen dabei halfen, die Aufmerksamkeit der italienischen Öffentlichkeit auf die Proteste in Serbien zu lenken.

Г wie Grobari

Totengräber, die Ultras von Partizan Belgrad. Haben sich hinter die Forderungen der Studierenden gestellt und angekündigt, deren Proteste zu schützen. Stimmen oft bekanntes Schmählied gegen Vučić an – leider homophob.

X wie Hrvati

Kroaten. Ihnen gibt man in Serbien gerne die Schuld an allem. Die Regierung behauptet, Kroaten würden hinter den Protesten stecken, und hat deswegen mehrere kroatische Teilnehmer einer NGO-Konferenz des Landes verwiesen und die kroatische Sängerin Severina nicht einreisen lassen.

И wie Izbori

Wahlen. Fanden zum letzten Mal im Dezember 2023 statt und waren laut OSZE von massiven Unregelmäßigkeiten begleitet und bereits im Vorfeld weder frei noch fair. Autokrat Vučić stellt Neuwahlen in Aussicht, was aber unter den gegebenen Umständen wohl wenig ändern würde, solange seine Leute die Stimmzettel auszählen.

Ј wie Javni servis

Öffentlicher Rundfunk. Während in Serbien die größten Proteste der jüngeren Geschichte am 15. März stattfanden, lief beim wichtigsten Sender RTS1 um 19.00 Uhr die beliebte Quizshow „Slagalica“. Der Sitz des Senders wurde am Abend des 10. März für 22 Stunden blockiert. Die Studierenden fordern, dass der öffentliche Rundfunk sich auch in den Dienst der Öffentlichkeit stellt und nicht in den einer kleinen korrupten Clique.

К wie Krvave Ruke

Blutige Hände. Studierende malen blutige Hände auf Plakate oder färben sich die Hände rot als Anklage in Richtung der Verantwortlichen für den Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad. Der Vorwurf: Eure Korruption tötet.

Schweigeminute für die 16 Todesopfer Foto: Darko Vojinovic/AP/dpa

Л wie Lithium

Das Leichtmetall im serbischen Jadartal ist begehrt, weil es für E-Auto-Batterien gebraucht wird. Der geplante Abbau steht in der Kritik wegen Umweltzerstörung, Gefährdung des Wassers, Enteignung von Bauern und Vorwürfen der Korruption und weil rechtsstaatliche Standards nicht eingehalten wurden. Während Serbinnen und Serben gegen den Abbau protestieren, sicherte sich Olaf Scholz im Juli bei einem Besuch in Belgrad den Rohstoff für die deutsche Autoindustrie und lud Vučić im Dezember ins sächsische Freital zum Bergbauamt ein – ohne öffentlich ein kritisches Wort zu dessen autoritärem Kurs zu sagen. In Serbien wirft man der Bundesregierung deshalb vor, die Demokratie für Lithium zu verraten.

Љ wie Ljuljanje

Schwanken. Symbolisch für das wankende Regime Vučićs, dem der Rückhalt entgleitet. Beliebt im Satz „Hulja se ljulja“ – Der Schurke wankt.

М wie Mirni protesti

Friedliche Proteste. Gewaltfreiheit ist oberstes Gebot der Studierenden.

Н wie Nije nadležan

„Er ist nicht zuständig“ – Slogan, der darauf aufmerksam macht, dass Serbien ein parlamentarisches System ist und der amtierende Präsident gegen Gesetz und Verfassung bei allen Themen autokratisch durchbestimmt, für die er gar nicht zuständig ist.

Tut viele Dinge, für die er nicht zuständig ist: Aleksandar Vučić Foto: Dejan Rakita/imago

Њ wie Njiva

Der Acker. Bauern mit Traktoren solidarisieren sich mit den Studierenden, fahren stundenlang in die Städte und blockieren mit ihren Traktoren die Straßen. In ganz Serbien wird demonstriert, auch in den Dörfern und Kleinstädten – das war bei früheren Protesten nicht so.

O wie Opozicija

Die Studierenden halten sich konsequent von den Oppositionsparteien fern. Dadurch bleiben sie für die breite Bevölkerung anschlussfähig, allerdings hat auch kaum jemand einen Plan, wer eigentlich auf Vučić und die SNS folgen soll.

П wie Pumpanje

Überall bei den Protesten wird „gepumpt“. Sobald es mal leise zu werden droht, wird jemand lautstark zum Pumpen aufrufen. Pumpen heißt einfach verstärken, weitermachen, pumpen halt. Inspiriert ist der Begriff von einem Youtube-Video, das eine serbische Hochzeit zeigt und einen Musiker, der seinen Akkordeonspieler zum Pumpen auffordert, während ein 100-Euro-Schein auf seiner schweißnassen Stirn klebt. Der Akkordeonspieler haut darauf noch härter in die Tasten und wippt übertrieben seinem Kopf von vorne nach hinten. Mehr Serbien geht nicht.

Р wie Režim

So wird das System Vučić von Oppositionellen genannt.

С wie Sendvičari

Eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die sich für Sandwiches und Geld an regierungsfreundlichen Veranstaltungen beteiligen.

Immer schön pumpen! Foto: Dejan Rakita/imago

Ш wie Šetnja

Spaziergang. Die Studierenden laufen und fahren mit dem Fahrrad durch ganz Serbien zu den gemeinsamen Großprotesten, um auch die Menschen in abgelegenen Dörfern zu erreichen, die oft nur regierungsnahe Fernsehsender empfangen. Gerade im Winter eine mit Strapazen verbundene Strategie. Damit geben sie vielen Menschen die Möglichkeit, sich mit wenig Aufwand zu solidarisieren und teilzunehmen, indem sie den Studierenden Getränke, Essen oder Schlafmöglichkeiten anbieten.

T wie Tišina

Stille. Täglich um 11.52 Uhr – dem Zeitpunkt des Einsturzes – wird mit Schweigeminuten der Opfer von Novi Sad gedacht. Am Freitag starb der 19-jährige Schüler Vukašin Crnčević an seinen Verletzungen – das 16. Todesopfer. Die Gedenkminuten wurden auf 16 Minuten verlängert.

У wie Univerzitet

Das Zentrum der Proteste.

В wie Vučić, Aleksandar

Amtierender Präsident Serbiens, der viele Dinge tut, für die er nicht zuständig ist.

З wie Zakon

Gesetz. Die Studierenden fordern, dass dieses wieder für alle gleichermaßen gilt, dass die Verantwortlichen für Korruption rechtsstaatlich zur Verantwortung gezogen werden und die Verfassung wieder eingehalten wird.

Ж wie Železnička stanica Novi Sad

Der renovierte Bahnhof in Novi Sad war Vučićs Prestigeprojekt – er wurde zweimal eröffnet, in zwei aufeinander folgenden Wahlkämpfen. Der Einsturz des Vordachs könnte das Ende von Vučićs Herrschaft eingeleitet haben.

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