piwik no script img

Wettmanipulation im türkischen FußballSüper-Skandal

Die Türkei erschüttert eine angeblich große Affäre um Fußballwetten. Die Aufarbeitung wird durch willkürliche Sport- und Staatsjustiz erschwert.

Einer der Verhafteten: Murat Özkaya, Präsident des türkischen Erstligisten Eyüpspor Foto: Seskim Photo/imago

Ein scheinbar monströs wirkender Korruptionsskandal im Fußball beschäftigt derzeit die Türkei. Die äußerst komplizierte Frage ist, wie dieses Problem gelöst werden kann. Denn in der Türkei gibt es Gesetze, die für jene gelten, die das Regime für akzeptabel hält, für Regimegegner gelten dagegen andere, willkürliche Gesetze. Staatsanwälte fordern etwa über 2.400 Jahre Haft für den Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, um ihn an einer Kandidatur gegen den Staatspräsidenten Erdoğan zu hindern. Die Türkei kann man als einen „Doppelstaat“ bezeichnen. Ein Konzept, das der Jurist Ernst Fraenkel vor Jahrzehnten formulierte, in welchem er zwischen dem Normenstaat und dem Maßnahmenstaat unterschied.

Der Rechtsverfall ist so tiefgreifend, dass er auch Einfluss auf den Wettskandal im Fußball hat. Seit dem Frühjahr wird gegen Schiedsrichter, Spieler, Vereinsfunktionäre und Manager ermittelt. Staatsanwälte werten Daten von legalen Wettplattformen, Banküberweisungen und Telefonprotokollen aus. Die Ermittlungen erfolgen im Verborgenen. Umso größer war der Aufschrei, als der Präsident des türkischen Fußballverbandes (TFF), İbrahim Hacıosmanoğlu, Ende Oktober überraschend verkündete, dass 371 der 571 Schiedsrichter Wettkonten hätten.

Die Disziplinarregeln des TFF unterscheiden sich von den Regelungen der türkischen Justiz: Das Wetten auf ein Fußballspiel durch einen Schiedsrichter oder Spieler ist laut TFF-Kodex ein Verstoß, nach türkischem Recht jedoch nicht zwangsläufig eine Straftat. Allein die Tatsache, dass jemand auf ein Spiel wettet, an dem er beteiligt ist, wird nicht als Hinweis auf eine Spielmanipulation bewertet.

In einem Land, in dem laut einer Umfrage 70 Prozent der Menschen kein Vertrauen in das Justizsystem haben, ist Misstrauen gegenüber allen Institutionen allgegenwärtig. Da Schiedsrichter die Richter eines Fußballspiels sind, wirkt dieses Misstrauen wie ein Katalysator. Die meisten Menschen glauben, dass Schiedsrichter absichtlich Fehlentscheidungen gegen ihre Teams treffen.

Angriffe auf Schiedsrichter

Seit Jahren wird im türkischen Fußball über Schiedsrichterwillkür geklagt. Bereits im Jahr 2023 schrieb der Journalist Murat Ağırel über Vorwürfe der Spielmanipulation in den unteren Ligen. Die Justiz griff jedoch erst jetzt ein. Während Galatasaray weiterhin Titel gewann, holte Fenerbahçe über ein Jahrzehnt keinen einzigen. Diskussionen über fehlende Unparteilichkeit dominierten die Debatten.

Angeheizt wurden diese unter anderem durch die Kritik des einstigen Fenerbahçe-Trainers José Mourinho. Schiedsrichter wurden bedroht, angefeindet und nach Spielen sogar auf dem Platz geschlagen. Im Februar wurde der slowenische Schiedsrichter Slavko Vinčić für das Derby zwischen Galatasaray und Fenerbahçe eingesetzt, um die Gemüter zu beruhigen. So sah die Lage aus, bevor der Skandal ausbrach.

Angesichts der 571 Schiedsrichter in den vier Profiligen der Türkei erscheint die Zahl der an der TFF-Untersuchung beteiligten Schiedsrichter hoch. Am 10. November wurde die Untersuchung auf Fußballer ausgeweitet. Die TFF gab bekannt, dass 1.024 Spieler aus allen Ligen betroffen seien, darunter 27 Spieler aus der Süper Lig, der höchsten türkischen Spielklasse.

Allerdings gibt es Unstimmigkeiten bei den Zahlen. Unter den 371 genannten Schiedsrichtern sind welche, die nie gewettet, aber ein Wettkonto auf Empfehlung ihres Verbandes hatten. Da es für Schiedsrichter der unteren Ligen kein System gab, um Spiele zu verfolgen und Statistiken abzurufen, eröffneten sie Konten bei einer legalen Wettplattform, die zufälligerweise Yıldırım Demirören, dem ehemaligen Präsidenten der TFF, gehörte. Dieses Wettunternehmen hatte ein Sponsoringvertrag mit den unteren Ligen.

Von den übrigen 152 als „aktiv wettend“ geltenden Schiedsrichtern setzten viele auf Spiele, die mit ihren Einsätzen nichts zu tun hatten. Einige der Schiedsrichter und Spieler waren zum Zeitpunkt der Wette noch nicht im Profibereich aktiv. Einige Wettkonten wurden sogar mit den Sozialversicherungsnummern von Schiedsrichtern und Spielern ohne deren Wissen eröffnet. Sie haben Gegenklagen eingereicht.

Festnahme von acht Personen

Natürlich gab es auch Fälle von Wetten und Spielmanipulation. So wird einem Schiedsrichter nachgesagt, 18.227 Wetten platziert zu haben, während 42 Schiedsrichter jeweils auf mehr als 1.000 Spiele gewettet haben sollen. Die Medien warfen die Zahl 18.227 in den Raum, um allein durch die Ziffer die Größe des Skandals zu belegen. Die teils irreführende Untersuchung des TFF untergräbt auch die Glaubwürdigkeit der Arbeit der türkischen Justiz.

Im Rahmen einer Untersuchung wegen Spielmanipulation und angeblicher Wettaktivitäten haben die türkischen Behörden acht Personen, darunter den Präsidenten des Erstligaklubs Eyüpspor, Murat Özkaya, festgenommen. Der TFF hat 149 Schiedsrichter und Assistenten suspendiert. Im Zuge derselben Ermittlungen wurden 102 Spieler der ersten und zweiten Liga gesperrt. Diese effektheischenden Ermittlungen drohen das ohnehin geringe Vertrauen in den türkischen Fußball weiter zu beschädigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare