Westliches Wertesystem: Schäubles leise Sätze
Der Bundestagspräsident attestiert dem Westen einen Glaubwürdigkeitsverlust. Man sollte genauer hinhören und darüber reden.
D er Westen befände sich mit seinem Wertesystem in der Krise, „nach innen und nach außen“, erklärte Wolfgang Schäuble vor einigen Tagen im Rahmen einer Buchvorstellung. Er habe einen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, weil er dieses Wertesystem immer weniger als „Selbstverpflichtung“ verstehe. Schäuble sagte diese Sätze leise, fast beiläufig.
Dabei ist schärfere Kritik an der politischen Klasse von einem ihrer führenden Repräsentanten kaum je geäußert worden. Es ist der Bundestagspräsident, der das sagte, Mitglied der größten Regierungspartei.
Der zweite Mann im Staat erklärt, die Eliten des Westens seien an ihren Problemen selbst schuld – und niemand hört hin. Nicht einmal eine kurze Meldung ist erschienen. Nun sorgen Buchvorstellungen selten für Schlagzeilen. Aber im letzten Jahr war Schäuble bei einer Rede in der Berliner Humboldt-Universität noch deutlicher geworden.
Es gebe genügend Anlässe aus den vergangenen drei Jahrzehnten, die „freiheitliche Demokratie als überlegenes Modell zu hinterfragen, etwa mit Blick auf den ökonomischen Aufstieg Chinas, die globale Finanzkrise oder die gescheiterte Intervention im Irak“, sagte er damals.
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„Wenn wir heute beklagen, dass in einigen mittel-und osteuropäischen Ländern und auch in Russland die Werte des Westens an Attraktivität verloren haben: Liegt das nicht vielleicht auch an der Rolle, die der Westen in der Transformation gespielt hat? An einem zu selbstgefälligen Glauben an die Alternativlosigkeit der eigenen Konzepte und Modelle? Hat der Westen womöglich gerade bei dem versagt, was ihn doch eigentlich auszeichnet und von autoritären Systemen unterscheidet: In seiner Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur?“
Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie sich an die Grundsatzdebatte nicht erinnern, die nach dieser Rede entbrannte. Es hat sie nicht gegeben. Nichts und niemand scheint imstande zu sein, den dichten Nebel aus Ratlosigkeit zu durchdringen, die sich als Selbstbewusstsein tarnt und derzeit die politische Klasse beherrscht.
Die Forderung nach Diskussionen über Prinzipien ruft bestenfalls Augenrollen hervor. Interessengeleitete oder wertgestützte Außenpolitik? Mehr Augenrollen. Gibt es eine Möglichkeit, beides miteinander zu verbinden? Das Publikum verlässt den Saal.
Prinzipienlosigkeit zur Realpolitik verklärt
Nun hat sich gezeigt, dass man ziemlich lange damit durchkommen kann, Prinzipienlosigkeit zur Realpolitik zu verklären, zumal in einer Zeit, in der die Unterschiede zwischen den großen politischen Parteien immer mehr verschwimmen.
Aber irgendwann rächt sich das dann doch. Dann verrecken allzu viele Geflüchtete. Und dann hält die nichtwestliche Welt hehre Bekenntnisse zu den Menschenrechten eben nicht mehr für glaubwürdiger als Behauptungen autoritärer Regime, nur das Beste für alle Menschen im Blick zu haben.
Dann verstehen selbst Gutwillige nicht mehr, ob es bei der Diskussion über Nord Stream 2 nun um Wirtschaftspolitik oder um die Verurteilung eines Mordanschlags geht und warum gute Beziehungen zu Saudi-Arabien und Ägypten weiterhin möglich sein sollen, zu Moskau aber nicht. Dann wenden sich immer mehr Länder hin zu China und weg von Europa. Peking erhebt wenigstens nicht den Anspruch, Geschäftspartner erziehen zu wollen.
In der deutschen Außenpolitik ist derzeit keine Linie zu erkennen, nicht einmal eine falsche. Die Ostpolitik wäre ohne Grundsatzdiskussion nicht möglich und ganz sicher nicht erfolgreich gewesen. Eine solche Debatte schärft ja auch den Blick auf innere Widersprüche. Welchen Kurs will Deutschland denn nun eigentlich fahren? Wir sollten darüber reden. Endlich einmal wieder.
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