: Wenn der Feind auch in der eigenen Partei sitzt
Die türkische Erdoğan-Regierung hat die CHP in Istanbul entmachtet. Hunderttausende demonstrieren, die Polizei antwortet mit Reizgas, Knüppeln und Wasserwerfern. Doch die größte Oppositionspartei des Landes hat noch ganz andere Probleme

Aus Istanbul Wolf Wittenfeld
Es geht weiter alles nach dem Drehbuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der die größte Oppositionspartei der Türkei zerschlagen will. Am Montag hat die Polizei in Istanbul einem von der Justiz eingesetzten Zwangsverwalter gewaltsam Zugang zur örtlichen Zentrale der größten Oppositionspartei des Landes verschafft. Dabei kamen Reizgas, Gummiknüppel und Wasserwerfer zum Einsatz.
Trotz Verbots hatten Hunderte Anhänger der linksnationalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) seit Samstag vor der Zentrale gegen die gerichtlich angeordnete Absetzung der Istanbuler Führungsspitze der CHP, die Räumung der Parteibüros und die Einsetzung eines Interimsvorsitzenden protestiert. Unter ihnen waren auch eine Reihe von Parlamentsabgeordneten der CHP, wie der oppositionelle Fernsehsender Halk TV berichtete. Sie waren einem Aufruf der CHP-Führung gefolgt, die zum Protest aufgerufen hatte. Einige Demonstranten versuchten, die Polizeiblockade um das Gebäude zu überwinden. Polizisten setzten Pfefferspray ein, um Demonstranten zurückzudrängen. Mehrere Menschen wurden dort am Montagmorgen festgenommen. Die Zentrale der Oppositionspartei war seit Sonntagabend von mehreren Hundert Polizisten umstellt worden. Am Montagnachmittag waren die CHP-Anhänger zu einem Sitzstreik vor der Istanbuler CHP-Zentrale übergegangen.
Um die Demonstrierenden zu behindern, waren am Montag Social-Media-Plattformen in der Türkei eingeschränkt. Unter anderem seien Youtube, Instagram und Whatsapp betroffen, schrieb die Organisation Netblocks, die vor allem für die Beobachtung von Internetsperren bekannt ist, auf X. Auch am Montagmorgen waren die Plattformen ohne geschützte Netzwerkverbindungen (VPN) teils nicht erreichbar. Bis Mittwoch wurde ein Demonstrationsverbot vor dem CHP-Sitz in Istanbul und in mehreren Bezirken der Stadt verhängt.
Im Zentrum des Streits steht der ehemalige CHP-Abgeordnete Gürsel Tekin, der vom Gericht zum Zwangsverwalter eingesetzt wurde. Die Behörden haben den früheren CHP-Vizevorsitzenden als kommissarischen Regionalchef der Partei in Istanbul eingesetzt. Tekin gehörte einst zum Führungszirkel des langjährigen CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu, der im Herbst 2023 von seiner Partei abgewählt worden ist. Statt des erfolglosen Kılıçdaroğlu, der mehrfach Wahlen gegen Erdoğan verloren hatte, waren damals Parteichef Özgür Özel und der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu zum neuen Führungsduo gewählt wurden. Auch in etlichen Regionalbüros waren neue Leute gewählt worden. Aus Ärger über ihre Abwahl vor zwei Jahren stellt Tekin sich nun, wie einige andere alte CHP-Kader, Erdoğan für die Zerschlagung der eigenen Partei zur Verfügung. Die Justiz ist Teil des Erdoğan’schen Drehbuchs zur Zerschlagung der CHP: Wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten beim Parteitag im Oktober 2023 hat ein Gericht am Dienstag vor einer Woche die gesamte Istanbuler CHP-Führung ihrer Ämter enthoben – und stattdessen unter anderem Tekin eingesetzt.
Tekin traf am Montag unter starkem Polizeischutz in der Istanbuler CHP-Zentrale ein und wurde mit lauten Buhrufen empfangen. Tekin sagte Journalisten, er wolle die Spannungen nicht verschärfen, sondern zur Lösung der rechtlichen Probleme der Partei beitragen. Er verteidigte das Vorgehen des Gerichts und sagte, er sei unparteiisch. Am Nachmittag übernahm er dann offiziell die Geschäfte der Partei in Istanbul.
Die CHP hatte Erdoğans AKP bei den Kommunalwahlen im Jahr 2024 deutlich geschlagen. Aktuell liegt die CHP in Umfragen rund 10 Prozent vor der Partei des Präsidenten. Seitdem versucht Erdoğan mithilfe einer willfähigen Justiz, sich die lästige Konkurrenz vom Hals schaffen. Seit der Einführung eines Präsidialsystems 2017 hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan maßgeblich Einfluss auf die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten. In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche Beamte aus Städten und Gemeinden festgenommen, die von der CHP regiert werden. Bereits im März dieses Jahres wurde der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, der als wichtigster Herausforderer von Präsident Erdoğan gilt, verhaftet. Der Vorwurf: Korruption. Seine Inhaftierung löste eine Protestwelle in mehreren Städten aus. Neben İmamoğlu wurden seit Oktober auch 9 der 26 CHP-Bezirksbürgermeister von Istanbul inhaftiert – die meisten wegen Korruptionsvorwürfen, die sie jedoch zurückweisen. Auch CHP-Bürgermeister in anderen Städten wurden festgenommen.
Die CHP hat erklärt, die Korruptionsvorwürfe seien politisch motiviert und Teil eines umfassenderen Versuchs, den wachsenden Einfluss der Partei zu untergraben. Erdoğans Regierung versichert, die Justiz arbeite unabhängig, und bestreitet eine politische Einmischung. In dem Konflikt geht es nicht nur um den Kampf einer von manchen eher als links angesehenen gegen eine klar rechte Partei, sondern um eine grundsätzliche Weichenstellung für die Türkei. Erdoğans immer islamistisch-autoritärer agierende AKP will die säkulare CHP ausschalten, um aus der Republik Türkei einen noch stärker religiösen Staat zu machen, mit Erdoğan als lebenslangem „Führer“. Das erklärt den erbitterten Feldzug des gesundheitlich angeschlagenen 71-jährigen Erdoğan gegen die junge Führung der CHP.
Özgür Özel
Noch am kommenden Montag, dem 15. September, soll ein Gericht in Ankara entscheiden, ob es beim CHP-Nationalparteitag 2023 Unregelmäßigkeiten gab. Dies könnte dazu führen, dass der dort gewählte Parteichef Özgür Özel abgesetzt wird. Als nationaler Zwangsverwalter will sich der abgehalfterte Kemal Kılıçdaroğlu zur Verfügung stellen.
Mit Blick auf die Intrigen in seiner Partei erklärte CHP-Chef Özgür Özel in Istanbul: „Ich werde niemandem vergeben, der sich zum Werkzeug des Palastes macht und dieser Partei schadet“ – mit Palast ist Erdoğan gemeint, den er als Möchtegern-Sultan sieht. Zuvor hatte er an einer Zeremonie zum 102. Jubiläum der Partei am Mausoleum des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk in Ankara teilgenommen. Damit bekräftigte die CHP ihren Anspruch, dessen Erbe zu verwalten. Die CHP-Führung hat indes den Termin für einen Sonderparteitag zur Wahl einer neuen Parteiführung für den 21. September angekündigt.
Mitarbeit: Daniel Bax
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