Wenn Kunst mit der Justiz kollidiert: Ich sehe was, was du nicht siehst
Die Malerin Julia Wegat hat ein Bild gemalt, das sie nicht mehr ausstellen darf. Sie kämpft bis zur höchsten Instanz gegen das Bilderverbot.
Das Bild gehört zu einem Zyklus, in dem sie frei nach den Brüdern Grimm von Rotkäppchen, Dornröschen oder Rapunzel erzählt, von erschrockenen Kindern und den Schrecken der Kindheit, Einsamkeit, Versehrtheit. Julia Wegat liebt Märchen und alte Malerei. Sie kann „richtige Räuberpistolen“ erzählen, wie man sie in Deutschland vielleicht nur noch hier erleben kann. Wo nach der Wende Schlösser leer standen, Industriequartiere aufgegeben wurden. Wo ihr etwas passiert ist, was für eine professionelle Malerin mit das Schlimmste ist: dass sie ein Bild nicht mehr zeigen darf, sich damit verstecken muss.
Das Dorf Frankleben liegt zwischen Halle und Merseburg in Sachsen-Anhalt. Früher mal gab es einen Braunkohletagebau, der viele Löcher in der Landschaft hinterließ und zahlreiche Seen entstehen ließ. Auch Schloss Unterhof Frankleben, noch in der Renaissancezeit erbaut, ist von Wasser umgeben; Julia Wegat hat sich dort eingemietet, weil ihre Pferde und der von ihr initiierte Reitverein Poni e. V. hier eine angemessene Umgebung gefunden haben.
Der Stein des Anstoßes: Das Bild eines Mädchens
Es ist stürmisch und kalt bei diesem ersten Besuch an einem Spätwintertag, die moderne Heizung kämpft gegen Klammheit und die festungsartigen Gemäuer. Dort, wo früher das Gesinde lebte, über der herrschaftlichen Beletage, hat sich Julia Wegat häuslich eingerichtet: große Wohnküche, Schlafzimmer, das Zimmer der Tochter, das Atelier. Wegat, Jahrgang 1969, braune Augen, breiter Mund, schmale Statur, trägt Jeans, Stiefel mit Sporen und eine teddyartige Fleecejacke. Ihre dicken langen Haare haben sich wie von selbst zu zwei angedeuteten Zöpfen eingedreht.
„Hier ist der Stein des Anstoßes“, sagt sie, steht auf und zieht ein an die Wand gelehntes Bild hervor. Kurzentschlossen hängt sie es an die Wand. Es zeigt ein junges Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren, das den Betrachter skeptisch anschaut, der rechte Arm stützt den linken Unterarm, den ein rosafarbener Gips ziert. Der Hintergrund ist blau, das Mädchen trägt ein rotes Tanktop und ein Tattoo. „Rapunzel 4“, entstanden 2010. Damals lebte Wegat noch mit ihrer Tochter im nahen Gimritz. Für den Rapunzel-Zyklus porträtierte sie ihre Tochter sowie zwei Nachbarmädchen, darunter auch Julia L. Das Einverständnis der Eltern holte sie ein, zeigte den Familien die Bilder. Die Eltern von Julia L. hätten sogar erwogen, das Bild zu kaufen, erinnert sich Wegat.
2013 ergibt sich die Möglichkeit einer Ausstellung der „Märchenbilder“ in der Halleschen Villa Rabe, einem ehemaligen Kinderkrankenhaus, heute von der Christlichen Akademie für Gesundheits- und Pflegeberufe betrieben. „Ich habe lange nach einem Kontext gesucht, wo ich den Zyklus zeigen kann“, erzählt Wegat. Die Grimm-Märchen sind brutal, grausam, Wegats Interpretationen führten sie auf ihren Kern zurück, auf den ihnen innewohnenden Schrecken. „Das ist nicht Disney World, das sind keine Mädchen mit niedlichen Glubschaugen. Meine Bilder haben alle einen sehr emotionalen Effekt.“ Wegat ist Schülerin des Hyperrealisten Gottfried Helnwein, sie malt ausschließlich figurativ, ihr Stil ist eindringlich, fast plakativ, sie liebt Übermalungen, drastische Zuspitzungen. Der Ausstellungskatalog dankt der Künstlerin und wünscht sich eine „sensible Auseinandersetzung“ mit ihren „Märchenbildern“ und den „darin aufgegriffenen Themen von Missbrauch, Gewalt, Verlassenheit und Sehnsucht“.
Wie das Bild verboten wird
Ausgerechnet in der katholischen Wochenzeitung Tag des Herrn erscheint damals eine kurze Ausstellungsbesprechung unter der Überschrift „Öffentlichkeit für ein Tabuthema“, daneben eine Abbildung von Wegats „Rapunzel 4“. Dass dieses Bild mit ihrer Tochter, deren Name in keiner Weise auftaucht, in den Zusammenhang von Missbrauch gerückt wird, gefällt Familie L. nicht. Sie verlangt – die Ausstellung ist längst vorbei –, dass die Künstlerin das Bild nicht mehr öffentlich zeigen darf und von ihrer Website nimmt. Dazu ist Julia Wegat nicht bereit, Familie L. klagt beim Amtsgericht Halle – und gewinnt. Für das Gericht zählt die Verletzung des Persönlichkeitsrechts mehr als die Freiheit der Kunst. Das Bild angeschaut haben sich die Richter nicht.
In der Urteilsbegründung vom 19. 11. 2015 (AZ 104 C 1142/15) heißt es: „Die Klägerin, wie auch ihre Eltern, halten den Kontext, in welchem das Bild gezeigt wurde, für unzulässig. Nach ihrer Auffassung wird dadurch in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck vermittelt, die Klägerin sei das Opfer von häuslicher Gewalt und Missbrauch in der Familie geworden.“ Das Revisionsverfahren im Juni 2016 beim Landgericht Halle verliert Julia Wegat ebenfalls, hier argumentiert das Gericht mit dem Vertragsrecht, das in besonderen Fällen kündbar sei.
Familie L. will sich heute nicht mehr mit der Angelegenheit befassen, ihre Sicht der Dinge schildern. „Es gibt unsererseits keine ‚Version‘ “, schreiben sie in einer E-Mail, „sondern nur Tatsachen – und die stehen im Gerichtsurteil.“ Und Tochter Julia, mittlerweile volljährig, antwortet: „Diese Sache ist für mich durch, wir haben recht bekommen und das Bild wurde verboten. Weiter möchte ich mich dazu nicht äußern.“
Frieder Badstübner hat als Leiter der Villa Rabe 2013 die Ausstellung der „Märchenbilder“ organisiert, das Vorwort im Katalog geschrieben. „Bei dem Bild kommt man gar nicht auf die Missbrauchsidee“, sagt er am Telefon. „Für mich strahlen die Rapunzel-Mädchen erst mal Selbstbewusstsein aus.“ Verletzlichkeit, Trotz und Aufbegehren – für Julia Wegat sind das Mädchen am Rande der Pubertät, wie ihre eigene Tochter Susanna, die zweimal als Rapunzel gemalt wurde. Auch sie mit Gipshand.
Julia Wegat will für ihr Bild kämpfen
Susanna Laves, 22, studiert heute in Halle, wo sie zu einem Treffen ins Bahnhofscafé kommt. Die juristischen Auseinandersetzungen haben stark in ihr Leben hineingewirkt. „Was bringen uns diese Begriffe wie Kunstfreiheit eigentlich?“, fragte sie sich. Sie begann Jura zu studieren, mittlerweile hat sie das Fach aufgegeben. Sie ist häufig in Frankleben, wo sie Kinder und Jugendliche beim Reiten trainiert. Modellstehen war als Kind ganz normal für sie, erzählt sie. Und sie erinnert sich an die komische Situation, dass damals sowohl sie als auch Julia L. sowie eine weitere Freundin tatsächlich einen Gipsarm hatten. Zufällig. Das habe ihre Mutter inspiriert. „Es ist doch klar, dass ich kein misshandeltes Kind bin“, sagt Susanna Laves. „Und dass nicht ich die auf dem Bild bin.“ Alle Kunst habe grundsätzlich eine Fiktionalitätsbehauptung, sei ausgedacht, sagt auch ihre Mutter. „Das ist nicht Julia L., sondern Julia L., wie ich sie sehe, als Rapunzel. Es ist eine Fiktion. Wieso bekommen die recht?“
Julia Wegat will sich mit dem Verbot nicht abfinden. „Hätte ich damals das Bild aus dem Internet genommen und eine Unterlassungserklärung unterzeichnet, wäre alles vom Tisch gewesen“, sagt sie. „Aber das geht doch nicht!“ Sie deutet auf die Bilder, die an der Wand ihrer großen Wohnküche im Schloss hängen. Sie zeigt die Kammer, wo aufrecht aneinandergelehnt ihre Bilder stehen. „Ich bin Porträtistin. In Zukunft kann man mit dieser Begründung jedes Bild verbieten. Man macht sich erpressbar.“
Julia Wegat ist eine disziplinierte Arbeiterin. Tagsüber kümmert sie sich um die Pferde, reitet, gibt Unterricht, abends geht sie ihrer Kunst nach. Sie lebt davon – hin und wieder verkauft sie eins ihrer älteren Bilder. Sie hat in München bei Ben Willikens und Gottfried Helnwein studiert, war angekommen im Kunstbetrieb, konzipierte Projekte und Performances, bevor sie sich zum Umzug entschloss. „Der ist zu hundert Prozent gelungen.“ Sie lacht. Ihrer Tochter wegen ging sie nicht etwa nach Afrika, sondern zog in den Saalekreis bei Halle.
Hat sie keine Angst, hier allein zu leben? „Ich habe einen großen bösen Hund.“ Wegat lächelt. Vom Hund ist auch im September, beim zweiten Besuch, nichts zu sehen oder zu hören, aber Wegats Katzen haben Nachwuchs bekommen und es ist schon wieder klamm in den Gemäuern. Ins Atelier geht sie nachts. „Naturlicht verändert sich ständig“, sagt sie, „selbst meine Filme sehen aus wie aus der Barockzeit. Ich habe da was ganz Altes. In der modernen Kunst bin ich nicht zu Hause.“ Nach dem Urteil malte Wegat eine Zeit lang Menschen ohne Kopf – aus Protest, dann hat sie auch damit aufgehört. Seither fotografiert und schreibt sie ausschließlich, verarbeitet das Ganze in einem Blog namens „Libertas Haus“. Eine Art Fotoroman und Livekommentar auf ihre Situation als Künstlerin und Außenseiterin im Dorf, die viele Anfeindungen einstecken muss. „Bis hin zum Vorwurf der Kinderpornografie.“
Vor der Klage beim Bundesverfassungsgericht
Auf dem Gelände hinter dem Schloss gibt es Wiesen, Koppeln, das Vereinshaus. Ein Mädchen, vielleicht 16 Jahre alt, probiert sich auf einem Hengst aus. Nero verweigert die schnellere Gangart, Julia Wegat gibt Tipps. Dranbleiben, stur bleiben. Das kann sie gut. Ist Julia Wegat eine, die schnell aneckt? „Ich finde mich nicht so renitent“, sagt sie. „Ich bin eigentlich viel zu angepasst. Immer alles so schön, so ästhetisch. Mir ist das jetzt einfach passiert.“ Gerade schaut sie sich nach neuen Räumlichkeiten für den Verein und die Pferde um, ihren Mietvertrag hat sie zum 1. Januar gekündigt.
Klage beim Bundesverfassungsgericht hat Wegat bereits im Juli 2016 eingereicht, ob diese zugelassen wird, ist ungewiss. Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes schützt insbesondere die Freiheit von Wissenschaft und Kunst; Artikel 12, Absatz 1 gilt der Berufsfreiheit. Wegats früherer Anwalt, Kunstrechtsexperte Jan Weber, ist hinsichtlich der Erfolgsaussichten skeptisch. „Das Urteil des Landgerichts Halle ist stark auf den Einzelfall abgestellt und so formuliert, dass es die Grundrechte zwar behandelt, aber nicht abwägt“, meint er am Telefon. Sollte aber Karlsruhe die Klage zulassen und das Urteil in Bezug auf Kunst- und Meinungsfreiheit einer kritischen Prüfung unterziehen, dann, da ist er sicher, werde es „positiv entscheiden“.
Für Julia Wegat ist das Verbot ihres Bildes ein Präzedenzfall. Sie hat eine Petition im Internet gestartet, Verbände und Abgeordnete angeschrieben. Der Münchner Kunstverein hat sich mit ihr solidarisiert, der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) hat dies abgelehnt. Für deren Sprecher Werner Schaub handelt es sich um einen Einzel- und keinen Präzedenzfall. „Es ist eine Abwägung zwischen Grundrechten, die das Gericht vorgenommen hat“, erklärt er. Urheberrecht versus Persönlichkeitsrecht. „Das muss man akzeptieren. Und eine Erlaubnis zur Abbildung kann jederzeit widerrufen werden, so die rein rechtliche Lage. Das ist zwar bedauerlich, aber es war in diesem Fall leider das Risiko der Künstlerin.“
Schaub gehen auch Formulierungen wie „Bilderverbot“ zu weit, sie werden als pauschalisierend empfunden. Julia Wegat will keinen Vergleich mit dem Verbot so genannter entarteter Kunst im Nationalsozialismus ziehen. Trotzdem sagt sie: „Früher hätte ich nie gedacht, dass ein Bild verboten werden kann.“ Und setzt hinzu: „Wir sind doch nicht bei den Nazis.“
Das Bild ist teurer geworden
25.000 Euro Strafe drohen, wenn sie in Zukunft das Bild ausstellt. „Die Geschichte konnte mir nur hier so passieren“, ist Wegat überzeugt. „In München hätten die Leute das Bild einfach gekauft.“ Sie bekommt viele Anfragen von potenziellen Käufern. Der Preis des Bildes ist gestiegen. Aber verkaufen will sie es derzeit nicht. Am 5. November will sie noch einmal einen Versuch machen, um auf ihr Problem aufmerksam zu machen. Für die Hal Art, eine kleine Kunstmesse in Halle, hat sie einen Stand gemietet. Dort wird sie, aus Protest, „Rapunzel 4“ mit dem Rücken zu den Betrachtern aufhängen. Die Künstlerin wird anwesend sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen