Wenn ÄrztInnen Fehler machen: Pfusch oder Behandlungsrisiko?
Opfer von vermeintlichen Behandlungsfehlern müssen selbst nachweisen, dass der Arzt Schuld trägt. Betroffene wollen die Beweislast umkehren.
Als Zillner, die in der Nähe von Passau lebt, am Tag ihrer Entlassung aber mit starken Schmerzen wieder in die Klinik eingeliefert wird, befindet sie sich plötzlich in akuter Lebensgefahr: Sie hat Stuhl im Bauchraum und erleidet in der Folge eine Blutvergiftung. 18 Zentimeter Dickdarm werden ihr entfernt, die Ärzt*innen legen einen künstlichen Darmausgang. Zillner überlebt nur knapp. Später wird sie im Ambulanzbericht lesen, dass der Darm bei der ersten OP verletzt worden ist, in der ihr die Tumore aus den Eierstöcken entfernt wurden.
Zillner wendet sich an ihren Frauenarzt, will Entschädigung. Doch einen Fehler gibt der Mann nur in einem ersten Vier-Augen-Gespräch zu. Später blockt er ab. In der Folge beginnt Zillner rechtlich gegen den Mann vorzugehen.
Zu den daraus folgenden juristischen Streitereien kommen die psychischen und physischen Folgen der Operation. Noch heute leidet sie darunter. Phantomschmerzen im Bauch, Verdauungsprobleme, die ständige Angst vor einem Dünndarmverschluss. Erst seit April dieses Jahres kann Zillner wieder arbeiten, sie ist in der Altenpflege tätig. Beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) hat sie im September 2018 ein kostenloses Gutachten angefordert. Auf das Ergebnis der Untersuchungen wartet sie noch. Doch auch wenn die Sachverständigen tatsächlich feststellen, dass ihrem Arzt ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, hätte sie nicht ohne Weiteres ein Recht auf Schadenersatz.
Ein kausaler Zusammenhang ist schwer zu beweisen
Das Problem: Vermutet eine Patient*in, Opfer von ärztlichem Fehlverhalten zu sein, muss er nicht nur den Behandlungsfehler und den Gesundheitsschaden nachweisen, sondern auch, dass zwischen beiden ein kausaler Zusammenhang besteht. Dabei ist in der Praxis schon der Grat zwischen möglichen Risiken bei Operationen und einem Behandlungsfehler schmal. Viele Patient*innen scheitern deshalb beim Versuch, Entschädigung zu erstreiten.
Horst Glanzer will, dass sich das ändert. Der Aktivist aus Bayern kämpft seit Jahren für die Rechte von Patient*innen in Deutschland und konnte bereits zahlreiche Gesetzesänderungen herbeiführen. Im September 2017 hat er eine Petition beim Bundestag eingereicht und fordert darin eine Beweislastumkehr: Nicht die Patient*innen müssen nachweisen, dass die Ärzt*innen einen Fehler begangen haben, sondern die Ärzt*innen müssen beweisen, dass sie richtig behandelt haben.
Der Bundestag hat die Petition am 27. September 2018 an die Bundesregierung überwiesen. Die Einjahresfrist, die dem federführenden Justizministerium zur Stellungnahme bleibt, ist vorbei.
Wie viele Menschen von der Änderung profitieren würden, ist nicht klar. Denn in Deutschland gibt es keine bundesweite Statistik zu Behandlungsfehlern. Die meisten Gutachten, über 14.000 waren es im vergangenen Jahr, erstellt der Medizinische Dienst. Dessen Gutachter*innen kamen in knapp 2.800 Fällen zu dem Schluss, dass ein Fehler der Ärzt*in zweifelsfrei zu den körperlichen Beschwerden der Betroffenen führte.
Die Dunkelziffer ist hoch
Die Landesärztekammern fertigen ebenfalls Gutachten an. In der Statistik für 2018 sind 1.500 Fälle verzeichnet, in denen die Gutachter*innen einen Kausalzusammenhang zwischen ärztlichen Behandlungsfehlern und späteren Beschwerden anerkannten. In der Summe sind es also 4.300 Fälle, bei denen klar Behandlungsfehler vorlagen.
Doch diese Zahlen beziehen sich ausschließlich auf die Fälle, in denen Patient*innen den Medizinischen Dienst oder die Ärztekammern einschalteten. Wer etwa den Weg über einen Anwalt oder eine Anwältin geht, taucht nicht auf. „Die Zahlen stellen nur einen winzigen Bruchteil der Fälle dar, von denen wir ausgehen“, konstatiert Gunnar Duttge, Professor für strafrechtliches Medizin- und Biorecht an der Universität Göttingen.
Als Freunde Heidi Zillner während ihrer Krankenzeit an den Aktivisten Glanzer vermitteln, erfährt sie von der Petition. Den Tag der offenen Tür der Bundesregierung am 17. August wollte sie in Absprache mit ihm nutzen, um Politiker*innen vor Ort von der Notwendigkeit des Vorhabens überzeugen: Von der Patientenbeauftragten im Bundesgesundheitsministerium will Zillner zum Ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und schließlich ins Bundeskanzleramt. Doch weder die Patientenbeauftragte Claudia Schmidtke (CDU) noch der angekündigte Mitarbeiter im Bundeskanzleramt stehen zur Verfügung. Auch der zuständige Referent des Justizministeriums ist nicht im Haus.
Immerhin erwischt Zillner aber Justizministerin Christine Lambrecht nach einem Bühnengespräch. Zillner verweist auf die Petition und ihr Schicksal, übergibt ihr eine Mappe mit Dokumenten und Fotos. Die SPD-Politikerin kennt die Petition – und dämpft die Erwartungen. „Die Stellungnahmen, die mir vorliegen, legen nahe, dass die bisherigen Regelungen sehr ausgewogen sind.“
Wichtig wäre vor allem eine andere Fehlerkultur
Sie nennt verschiedene negative Folgen einer Beweislastumkehr: das Problem der Beweisführung im medizinischen Bereich, der hohe Dokumentationsaufwand, die Gefahr, dass Ärzt*innen die haftungsrechtlich sicherste Variante statt die vielleicht medizinisch gebotene wählen. Außerdem gebe es bereits Beweiserleichterungen. Die Mappe nimmt die Ministerin aber trotzdem mit.
Tatsächlich stehen die Chancen für Glanzers und Zillners Anliegen schlecht. Lambrechts Argumentation deckt sich mit der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses des Bundestages. Karin Maag, Gesundheitspolitikerin der CDU, warnt vor einem „Dokumentationsverpflichtungswahn, um bei Schadenersatzklagen exkulpieren zu können“.
Die Patientenbeauftragte Claudia Schmidtke hat wie ihre Vorgänger*innen zumindest gefordert, den Kausalitätsnachweis zu erleichtern: Muss gegenwärtig der Fehler mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit ursächlich für den Schaden sein, soll zukünftig eine Wahrscheinlichkeit von 51 Prozent reichen. Für diese Änderung plädiert auch der Medizinische Dienst. Max Skorning, der die Arbeit des MDK für den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen kontrolliert, hält fest: „Diese Regelung wäre für Betroffene besser. Sie scheitern oft nach langen Prozessen an der Kausalitätsvorgabe.“
Doch selbst danach sieht es nicht aus, wie die Aussagen von Lambrecht und Maag nahelegen. Lediglich die Fraktionen der Linken und der Grünen gehen über die Forderungen der Patientenbeauftragten hinaus. Sie wollen weitere Beweiserleichterungen im Sinne des Patientenrechtegesetzes – auch bei einfachen Behandlungsfehlern.
Im Patientenrechtsgesetz ist geregelt, dass in bestimmten Fällen der Kausalitätsnachweis erleichtert wird, zum Beispiel bei groben Behandlungsfehlern, wenn etwa eine Schere bei der OP im Körper vergessen oder ein auf dem Röntgenbild sichtbarer Bruch übersehen wurde. Der oder die Patient*in muss dann „nur noch“ beweisen, dass ein solcher Fehler vorliegt und dass dieser grundsätzlich zu dem eingetretenen Schaden geführt haben kann. Dann wechselt die Beweislast. Es ist dann an der Ärzt*in zu belegen, dass sein Fehler nicht ursächlich für den Schaden war. Manuela Rottmann, Rechtspolitikerin der Grünen, sagt: „Wir wollen, dass die Beweisführung für Patienten erleichtert wird. Was in der Petition gefordert wird, macht die Haftung des Arztes dagegen zum Regelfall.“
Auch Experte Gunnar Duttge von der Uni Göttingen ist skeptisch, was die Petition betrifft. „Man kann darüber diskutieren, ob es weitere Fälle gibt, bei denen eine Erleichterung des Kausalitätsnachweises sinnvoll ist“, so der Wissenschaftler. Eine flächendeckende Ausweitung lehnt er aber ab. Duttge betont, dass es auf anderen Feldern Handlungsbedarf gebe. Entscheidend sei vor allem die Etablierung einer anderen Fehlerkultur in den Krankenhäusern und ein besseres Fehlermanagement. Doch auch diese Reformen sind nicht in Sicht. Für Zillner, Glanzer und viele andere bleibt wenig Hoffnung. Dennoch meint Zillner nach ihrem Berlin-Besuch: „Ich habe zumindest alles Menschenmögliche versucht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück