Weniger Beratung gegen Zwangsehen: Wie dem Zwang entkommen?
Junge BerlinerInnen, die im Sommer in der Heimat der Eltern zwangsverheiratet werden, sind auf Hilfe angewiesen. Doch Beratungsstellen werden weniger.
Zwangsheirat statt Sommerurlaub: Immer wieder kommt es vor, dass junge BerlinerInnen in den Ferien in der Heimat der Eltern verheiratet werden und teils nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Sie brauchen Hilfe – am besten vor der Abreise, möglicherweise aber auch später, wenn sie bereits im Ausland festsitzen.
Ausgerechnet zum Juli hat allerdings die unter anderem auf Zwangsverheiratungen spezialisierte Beratungsstelle von Terre des Femmes ihre Arbeit eingestellt – aus finanziellen Gründen. Und eine weitere wichtige Anlaufstelle, die Onlineberatung der Berliner Hilfsorganisation Papatya, die Frauen notfalls auch in einer Kriseneinrichtung unterbringt, ist ebenfalls bedroht.
„Wenn jetzt auch noch die Onlineberatung von Papatya wegfällt, weiß ich nicht mehr, an wen ich Betroffene verweisen soll“, sagt Petra Koch-Knöbel. Sie ist Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte in Friedrichshain-Kreuzberg und koordiniert seit Jahren den Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratungen. Natürlich würden auch andere Beratungsstellen den Menschen versuchen zu helfen. Aber oft sei das Problem vielschichtig, Betroffene müssten untergebracht oder Anwälte im Herkunftsland der Familie hinzugezogen werden, sagt Koch-Knöbel. „Dafür brauchen wir eine spezialisierte Beratung.“
Großes Dunkelfeld
Wie viele junge Menschen aus Berlin gegen ihren Willen verheiratet werden, weiß niemand genau. Der Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung hat im vergangenen Sommer eine Umfrage durchgeführt. Insgesamt wurden 1.164 Berliner Einrichtungen aus dem Anti-Gewalt-Bereich, Jugendämter, Polizei, Migrations- und Frauenprojekte sowie Schulen und Flüchtlingsunterkünfte angeschrieben, 420 beteiligten sich.
Auch wenn das Dunkelfeld groß und die Umfrage nicht repräsentativ ist – Doppelzählungen konnten beispielsweise nicht ausgeschlossen werden –, so lieferte sie doch Anhaltspunkte: 2017 waren den Berliner Einrichtungen demnach 570 Fälle von versuchter oder erfolgter Zwangsverheiratung bekannt. Mit 93 Prozent gehörten größtenteils Mädchen und Frauen zu den Betroffenen. Die meisten waren zwischen 16 und 21 Jahre alt.
In 444 Fällen gab es auch einen Hinweis zum Migrationshintergrund: Etwa die Hälfte stammte demnach aus einer arabischen Familie, 20 Prozent hatten türkische Wurzeln, 15 Prozent stammten aus Ländern des Balkans. 83 Prozent der Betroffenen hatten den Angaben zufolge einen muslimischen Hintergrund.
Zwangsverheiratungen seien kein typisches Merkmal für Menschen mit Migrationshintergrund, dieser Eindruck dürfe nicht entstehen, so Koch-Knöbel. Das Phänomen komme in ganz unterschiedlichen Gesellschaften vor, vor allem in archaischen und patriarchal geprägten Kulturen. Allerdings zeigten die Zahlen schon, dass es diese Form von Gewalt auch in Berlin in signifikantem Ausmaß gebe.
Bislang konnten sich Betroffene oder auch Menschen aus dem Umfeld von Betroffenen – LehrerInnen, Partner, FreundInnen, Bekannte – an die Beratungsstelle von Terre des Femmes wenden. Seit Anfang Juli ist damit Schluss – aus finanziellen Gründen. Die zwei Stellen des Beratungsangebots seien aus privaten Spenden und einer kurzfristigen Projektförderung bezahlt worden, öffentliche Gelder habe es nicht gegeben, sagt Bundesgeschäftsführerin Christa Stolle.
Die Nachfrage sei zwar hoch gewesen, 570 Beratungsanfragen habe es 2018 gegeben. Aber wegen der unsicheren Finanzierung habe sich Terre des Femmes entschieden, das Angebot einzustellen. „Wir wollen mehr auf Prävention und Aufklärungsarbeit setzen“, sagt Stolle. Schulungen für LehrerInnen und SozialarbeiterInnen für den Bereich werde die Organisation weiter anbieten.
Junge Menschen, die vermuten, dass sie gegen ihren Willen verheiratet werden sollen, oder die bereits verheiratet wurden, können sich derzeit noch bei der Onlineberatung von Papatya melden. Im Jahr 2018 gab es 548 Mailkontakte, 83 direkt Betroffene nutzten das Angebot, sagt Mitarbeiterin Christine Schwarz. Sie heißt in Wirklichkeit anders, ihren echten Namen will sie aber nicht nennen, um die Frauen und sich selbst nicht zu gefährden. 25 Menschen wendeten sich 2018 an die Beratungsstelle, die bereits im Ausland festsaßen, 7 von ihnen habe Papatya zurück nach Deutschland holen können.
Aber auch diese Hilfe gibt es so möglicherweise bald nicht mehr: Bislang hat Papatya zwei Stellen für die Beratung, sie bekommt dafür vom Land 25.000 Euro, so die Senatsverwaltung für Frauen. Mit dem Geld könne man aber nur etwa eine halbe Stelle finanzieren, sagt Schwarz. Bislang gelang es dem Verein, den Rest mit anders akquirierten Geldern zu bestreiten. Das gehe aber nicht mehr. „Wir sind am Ende mit unserem Latein, wo wir noch Spenden oder Mittel auftreiben können.“
Beraterin warnt vor Gefährdung der Betroffenen
Deshalb habe Papatya mit der Frauenverwaltung verabredet, im nächsten Doppelhaushalt 2020/2021 Gelder für die zwei Stellen zu beantragen – 86.000 pro Jahr würden die kosten, berichtet Schwarz. Doch dieser Posten sei in den Verhandlungen bereits rausgeflogen, erfuhr Papatya. Schwarz sagt: „Wenn wir die Stellen nicht finanziert bekommen, müssen wir unsere Beratungsarbeit im Laufe des nächsten Jahres einstellen.“
Eine Sprecherin der zuständigen Senatorin Dilek Kalayci (SPD) teilt mit, dass man das Beratungsangebot von Papatya für „sehr gut und wichtig“ halte und das Geld auf 29.077 Euro für 2020 erhöht habe – also deutlich weniger als von Papatya gefordert. Das Problem sei, dass bis auf Brandenburg alle Bundesländer aus der Förderung ausgestiegen seien, so die Sprecherin. „Wir als Land Berlin müssten also die komplette Finanzierung eines Projektes übernehmen, das bundesweit arbeitet.“
Papatya hat laut Schwarz versucht, Gelder aus anderen Bundesländern zu bekommen, das habe aber nicht geklappt. Über die Hälfte der Anfragen stammen Papatya zufolge auch aus Berlin. Der Verein versucht nun, über einzelne Abgeordnete doch noch etwas zu erreichen. Schwarz warnt: „Wenn die Beratung wegfällt, bedeutet das eine Gefährdung der Betroffenen.“
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