Wenige Corona-Infizierte in Leipzig: Warum sind die Zahlen so niedrig?
Im Vergleich zu anderen Städten und Regionen gibt es in Leipzig derzeit wenige Infizierte. Epidemiologe Markus Scholz hat dazu fünf Thesen aufgestellt.
Lange schien Leipzig eine der letzten Bastionen im Land zu sein: Während die Zahl der Corona-Infektionen in vielen Regionen und vor allem Großstädten Deutschlands zuletzt rasant stieg, blieb die Stadt Leipzig bisher weitestgehend verschont von einem rasanten Anstieg.
Erst am Montagabend erreichte der Inzidenzwert, die Anzahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner:innen innerhalb der vergangenen sieben Tage, den Wert 35,1. Grund für den Anstieg waren wahrscheinlich Infektionsausbrüche in Altenheimen sowie Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete. Damit ist eine erste kritische Grenze erreicht und es greifen neue Maßnahmen.
Dennoch stellt sich die Frage, warum die Inzidenzwerte lange Zeit vergleichsweise niedrig waren – und immer noch deutlich geringer sind als in Hotspots wie Berlin-Neukölln (256,9), anderen sächsischen Großstädten wie Dresden (82,4) oder sogar den umliegenden ländlichen Regionen (Landkreis Nordsachsen: 66). Markus Scholz, Epidemiologe an der Universität Leipzig, hat einige Thesen zu der Entwicklung aufgestellt.
These 1: Die Maßnahmen greifen
„Mittlerweile haben wir gesichertes Wissen darüber, dass Corona in Leipzig zwischenzeitlich komplett ausgerottet war“, sagt Scholz. Im Sommer wurde in Sachsen über 14 Tage hinweg kein einziger Fall mehr beobachtet – was dafür spricht, dass das Virus im Freistaat komplett verschwunden war. Scholz betont, dass das ein Zeichen sei, dass die Maßnahmen wie Mund-Nase-Bedeckung, Abstandhalten oder die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wirken würden. Dennoch: „Leipzig ist keine isolierte Insel, es kommt zwangsläufig zu Austausch, indem sich Menschen von einem Ort zum anderen bewegen.“ Deshalb sei ein Anstieg der Infektionszahlen nur eine Frage der Zeit.
These 2: Die späten Sommerferien
Sachsen ist im Vergleich zu anderen Bundesländern relativ spät in die Sommerferien gestartet, nämlich Mitte Juli. „In anderen Bundesländern hat man gesehen, dass besonders Reiserückkehrer:innen das Virus mitgebracht haben“, sagt Scholz. In Leipzig seien die Menschen, die aus dem Urlaub zurückgekommen sind, daher von Beginn an konsequent getestet und in Quarantäne geschickt worden. Durch die Erfahrungen aus anderen Bundesländern, in denen die Sommerferien früher gestartet haben, war Leipzig besser vorbereitet.
These 3: Die Lage der Stadt
In Sachsen sind besonders die Grenzregionen zu Tschechien von hohen Infektionszahlen betroffen. Im Erzgebirgskreis liegt der Inzidenzwert aktuell bei 195,9, im Landkreis Görlitz bei 58,2. „Es kann sein, dass durch den Grenzverkehr zu Tschechien, wo das Infektionsgeschehen zuletzt stark angestiegen ist, die grenznahen Regionen stärker betroffen sind“, sagt Scholz. Leipzig liegt nah an Sachsen-Anhalt, wo das Infektionsgeschehen im bundesweiten Vergleich mit einem Inzidenzwert von 36,1 ebenfalls relativ gering ist. Grenzregionen sind derzeit auch andernorts besonders stark betroffen, zum Beispiel in Bayern mit Rottal-Inn und Berchtesgarden.
These 4: Die Altersstruktur
Das Durchschnittsalter in Leipzig liegt bei 42,8 – ähnlich wie in anderen deutschen Großstädten, aber jünger als im sächsischen Umland. „Eine Vermutung ist, dass die sogenannte Compliance, also die Bereitschaft, Masken zu tragen und die Corona-Maßnahmen einzuhalten, bei jungen Leuten höher ist“, sagt Epidemiologe Scholz. Er vermutet, dass sich junge Menschen stärker an die Maßnahmen halten als andere Altersschichten und die Zahlen in Leipzig deshalb niedriger seien. Außerdem fänden Großveranstaltungen wie Partys, die traditionell häufig von jungen Menschen besucht werden, gerade nicht statt. Deshalb seien die Infektionsherde weitestgehend ausgemerzt, sagt Scholz und widerspricht damit den Theorien, dass besonders junge Menschen für das steigende Infektionsgeschehen verantwortlich sind.
These 5: Die Sichtbarkeit der Maßnahmen
„Es gibt die Theorie, dass Menschen in ländlichen Regionen weniger achtsam mit den Coronamaßnahmen umgehen“, erklärt Scholz. Ein Erklärungsansatz könnte sein, dass Menschen, die in der Stadt wohnen, sich durch die Nähe zu anderen Menschen mehr mit dem Thema Corona auseinandersetzen. „In ländlichen Regionen spielt das Virus nicht so eine große Rolle“, sagt Scholz. Das sei eine Erkenntnis, die Forscher:innen in anderen Ländern aufgestellt hätten und die sich auch im Leipziger Umland erkennen lasse. Den Unterschied zu Städten wie Berlin oder München erklärt dieser Punkt nicht. Das Land-Stadt-Gefälle in Sachsen möglicherweise schon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?