Welterklärer Flimmerkiste: Gegenkultur in Serie
Kaum ein Medium reagiert so schnell auf Wandel in der Gesellschaft: Serien erklären uns die komplizierte Welt. Und trotzdem werden sie verteufelt.
Wer liest, dem wird das selten vorgeworfen: „Süchtige“ oder „Prokrastinierer“. Der Ruf des Lesens ist noch nicht ruiniert, der des Glotzens umso mehr. Lesen bildet, Glotzen macht dumm.
Diese erzkonservative Vorstellung, die im Fernsehen Opium des Volkes sieht, im Buch allerdings das Gute, Wahre und Schöne, sitzt so tief, dass den meisten Leuten eins entgeht: Seit fast 20 Jahren sind es die TV-Serien, die Konflikte, Kriege und Dynamiken in individuellen, politischen, gesellschaftlichen, familiären und geschlechtlichen Beziehungen auf der Höhe der Zeit verhandeln.
Selbstverständlich gibt es allerlei Mist, aber auch nicht mehr, als es miserable Romane gibt. Der Vorteil einer Serie ist, dass die Autoren und Serienmacher nach einer Staffel auf die Zuschauer reagieren können. Das war schon beim „Denver Clan“ so, dessen berühmteste Figur Alexis Colby erst in der 14. Folge mit dem Titel „Enter Alexis“ eingeführt wird, weil die Zuschauer mehr Drama und mehr Frauen sehen wollten.
Ab etwa Ende der Neunziger spricht man von Qualitätsserien, vor allem wegen der Mafia-Serie „The Sopranos“.
Öl, Macht und Familienidyll
Ihr Qualitätsmerkmal: Das Personal folgt keinem Gut/Böse-Schema mehr, gezeigt werden vielschichtige Persönlichkeiten und Macht- und Beziehungsabhängigkeiten, wie man sie bis dato nur aus Romanen kannte, und das Ganze auch noch in Form von Dialogen, die zu Bonmots werden. Serienfiguren wie Tony Soprano werden zu Zitatlieferanten für politische Kommentatoren, weil sie auf den Punkt bringen, was sonst nur gewitzte Schulhofjungs können.
2. Juni 1967: Ein Schuss tötet den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dieses Datum markiert den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News und alternative Fakten, über Verschwörungstheorien, bürgerliche Zeitungen und alternative (auch rechte) Blätter, über die „Wahrheit“ und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen. Nachdenken über 50 Jahre Gegenöffentlichkeit: taz.gegen den stromDie Sonderausgabe taz.gegen den strom – jetzt im taz Shop und auf www.taz.de/gegenoeffentlichkeit
Die Entwicklung der TV-Serien lässt sich grob in folgende Phasen unterteilen: In den Achtzigerjahren, Zeit der Öl- und Wirtschaftskrise, ging es einerseits ums große Geld, um voyeuristische Einblicke in die Milieus der Superreichen und deren Abgründe („Dallas“, „Denver Clan“, „Das Erbe der Guldenburgs“).
Auf der anderen Seite kamen die sympathischen Kleinfamilien mit ihren Schrullen und Problemchen ins Bild, die den tristen Alltag meist komödiantisch versüßten („Alf“, „Bill Cosby Show“, „Lindenstraße“).
In den Neunzigern, den Jahren nach dem Ende des real existierenden Sozialismus, ist es zuerst eigenartig ruhig im Fernsehen. Außer dem zu Kult werdenden Psychodrama „Twin Peaks“ passiert jahrelang nichts Neues.
Gleichberechtigung und Sicherheitsängste
Dafür aber im zweiten Teil der Neunziger jede Menge: Geschlechterrollen und Feminismus werden durch „Sex and the City“ zum Thema, über das alle reden, mit „The West Wing“ wird die Mutter aller Weißes-Haus-Serien gedreht, der nachgesagt wird, durch ihre sympathischen Figuren den US-Bürgern wieder Lust auf Politik und Veränderung gemacht und letztlich die Wahl Obamas ermöglicht zu haben. Außerdem wird mit „The Sopranos“ das Genre Mafiafilm auf eine Serienebene gehoben, die bis heute als Maßstab aller großen Familien- und Politdramen gilt.
Nach dem Attentat 9/11 spielen einerseits Angst, Sicherheit und Terrorismus die größte Rolle („24“), das Thema Geschlechter erfährt durch „Girls“ ein Update. Andererseits wird mit dem Genre Serie immer weiter experimentiert und bringt mit „The Wire“ das großartigste Gesellschaftsporträt einer US-amerikanischen Stadt im 20. Jahrhundert hervor. Die Darstellung von Herrschaft, Rassismus, Korruption, Drogenbusiness und Gewalt ist so brillant in Szene gesetzt, dass der Vergleich mit Balzac unbedingt richtig ist.
In den 2010er-Jahren setzt sich mit Serien wie „Homeland“ das Thema Sicherheitsapparat und der westliche Blick auf Muslime durch. Und es beginnt erneut die Phase der großen Politthriller rund um das Weiße Haus wie „House of Cards“ oder „Designated Survivor“.
Neu an diesen Serien sind nicht die Intrigen, die Korruption, die Kaltblütigkeit, mit der in Sicherheits- und Behördenkreisen Macht gespielt wird. Das Neue ist, dass die Geschlechterrollen immer auch eine Hauptrolle spielen als wichtiger Teil der großen Konflikte. Immer mehr Serien beschäftigen sich auf verschiedenen Ebenen mit Geschlechterfragen („The L-Word“, „Transparent“, „Orange is the New Black“).
Selbst „True Blood“ ist pädagogisch wertvoll
In Europa starten Versuche, kontinentale Serien zu drehen, die die Einheit Europas inszenieren – zumindest was Zusammenarbeit zwischen Kriminellen, Polizei- und Ermittlungsbehörden angeht und damit aber auch persönliche Schicksale („The Last Panthers“, „Die Brücke“, „The Team“)
In den letzten 20 Jahren bemühten sich TV-Serien immer mehr darum, festgelegte Rollen zu hinterfragen. Jeder Netflix-Abonnent kann heute wissen, dass unsere Gesellschaften nicht aus einfachen Mustern bestehen, dass Macht nicht nur da dreckig ist, wo es um viel Geld oder Staat und Regierung geht. Ja, selbst Serien, die vordergründig von Vampiren oder Klonen („True Blood“, „Orphan Black“) handeln, halte ich für politisch und pädagogisch wertvoll.
Die Welt der TV-Serien ist das beste Gegengift gegen die Welterklärungsmodelle von Pegidisten und AfDisten, für die alles immer ganz einfach ist.
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