Weitwanderweg in Nordspanien: „Kameraden, ihr seid frei!“
Fast 800 Gefangene flohen im Spanischen Bürgerkrieg aus einer Festung bei Pamplona. Das Ziel: Frankreich. Entlang ihrer Spuren entstand der GR 225.
D er GR 225 ist eine makabere Route, eine Route der Toten. 53 Kilometer schlängelt sich dieser Weitwanderweg durch die Ausläufer der Pyrenäen, von Pamplona Frankreichs Grenze entgegen. Seine Routenplaner haben sich nicht nur an schönen Landschaften orientiert. Sondern an Orten, an denen Menschen erschossen und verscharrt worden sind, die dasselbe wollten wie nun wir: Frankreich erreichen. Für uns ein nettes Ziel. Für die Menschen, die hier vor 85 Jahren unterwegs waren, die Freiheit.
Menschen wie Jovino Fernández Gonzáles. Als Francisco Franco im Jahr 1936 gegen die spanische Republik putschte, schloss sich der junge Tagelöhner republikanischen Milizen an, wurde gefangen genommen und nach Pamplona gekarrt: in die Festung Alfonso XII hoch über der Stadt, auf der Spitze des Berges Ezkaba.
Die Festung ist unser Start in den GR 225. Ein meterhohes, schweres Gittertor versperrt den Eingang. Glattes Mauerwerk, durchbrochen von Schießscharten, zieht sich den Gipfelhang hinauf. Die ganze Festung ist tief in den Berg gebaut.
Kaum hatten die Franco-Leute Pamplona und die Provinz Navarra in ihre Gewalt gebracht, wurde aus der leerstehenden Festung ein Knast. Als sich hinter Jovino Fernández die Gittertore schlossen, befanden sich mit ihm etwa 2.600 Gefangene hinter den Festungsmauern.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Sie lebten unter unvorstellbaren Bedingungen“, erzählt uns Fermín Ezkieta Yaben. Der sportliche 66-Jährige, mit dem wir verabredet sind, hat sich intensiv eingearbeitet in die Geschichte dieses Gefängnisses und darüber ein Buch geschrieben.
Eines Sonntagmittags, es war der 22. Mai 1938, hörte Jovino Fernández den Lärm der Zellenriegel. Jemand – so berichtete er später katalanischen Zeitungen – soll geschrien haben: „Nach draußen, Kameraden! Ihr seid frei!“ Die Flucht aus der Festung, die Fuga de Ezkaba, begann. 795 Gefangene liefen davon. Parole: „Nach Frankreich!“
Welchen Weg sie dabei genommen haben könnten, hat Fermín Ezkieta lange umgetrieben. Irgendwann hat er versucht, die Wege zu rekonstruieren. Es geht ihm dabei auch um Gerechtigkeit: „Diese Massenflucht, eine der größten der Geschichte, ist jahrzehntelang verschwiegen worden.“ Mit Gleichgesinnten und dem Instituto Navarro de la Memoria, das sich besonders den Menschenrechtsverletzungen durch den Militärputsch widmet, hat er den GR 225 ausgearbeitet. Die Nummer des Wegs leitet sich vom Fluchtdatum ab, im Mai 2018, 80 Jahre nach dem großen Ausbruch, wurde er eröffnet.
Am Wegweiser, der den Einstieg markiert, verabschieden wir uns um die Mittagszeit von unserem Guide. Regenschwere Wolken hängen über den Bergspitzen im Norden. „Ihr seid gut ausgerüstet“, sagt Ezkieta mit Blick auf unsere Gore-Jacken. „Die Flüchtigen hatten nur das, was sie zufällig am Leib trugen, und ihre Schuhe waren miserabel.“
Die rot-weißen Zeichen des GR 225, manchmal noch ergänzt durch das Symbolbild einer Person, die über Zacken springt, leiten uns über Ginsterhänge und durch einen Kiefernwald auf der Nordseite des Berges. Wir kommen in ein breites Tal und zum Weiler Garrués. Häuser mit schmalen Fenstern und hohen Wänden, aus verschieden großen Steinen gemauert. An jenem Sonntag im Mai 1938 spielten Kinder dort auf der Straße, als plötzlich Hunderte Menschen durch die Ortschaft rannten. Rasch riegelten Soldaten und Polizisten die Straßen ab, es fielen Schüsse.
Wir nähern uns dem Tal der Ultzama und folgen einem steinigen Bergpfad durch die Flanke des Txaraka. Brombeeren und Heckenrosen verhaken sich in unsere Kleidung. Gerade hier an diesen Bergflanken wurden besonders viele Menschen gefasst. Nach zwei Tagen waren 445 Ausgebrochene schon wieder eingekerkert. Jovino Fernández aber hatte sich vor den Suchtrupps ins Unterholz gequetscht und die Nacht abgewartet. Dann tauchte er durch die reißende Ultzama, deren Brücken streng bewacht wurden.
Am späten Nachmittag kommen wir nach Olave. Viele gefangen genommene Flüchtlinge wurden hier in Busse verfrachtet – aber nicht alle: Ein Wegweiser schickt uns hinaus hinter die letzten Häuser, zu einer offenen Grube. Ein Holzzaun umgibt sie, davor stehen einige Stelen. In einer Metallplatte sind 16 Köpfe herausgestanzt, anonyme Gesichter.
Sie symbolisieren 16 Männer, die meisten zwischen 18 und 25 Jahre, die an diesem Ort kurz nach ihrer Festnahme erschossen wurden. Ein Gedenkstein ehrt die Toten: „Möge die Erde eure Spuren bewachen und mögen wir nicht das vergessen, was hier geschah.“ Die Gemeinde hat den Stein aufstellen lassen. 14 solcher Orte sind inzwischen identifiziert worden, 2015 der erste. „77 Jahre nach den Ereignissen!“, hatte Fermín Ezkieta kritisiert.
Maria Carmen Lizoain Osinaga ist hier Bürgermeisterin, wir treffen sie in ihrer Bar am Dorfeingang. Ihre Gemeinde hat sich für den GR 225 engagiert, alte Pfade wiederhergestellt und eben das Mahnmal am Hinrichtungsort geschaffen.
„Ja, die Leute haben lange eisern geschwiegen“, sagt Lizoain und kneift mit ihren Fingern die Lippen zusammen. Manche meldeten sich freiwillig für die Erschießungen, andere hatten Flüchtige verraten, viele mussten beim Verscharren helfen. Nichts, über das man später reden wollte: „Wir waren eine gespaltene Gesellschaft. Im Bürgerkrieg stand Bruder gegen Bruder, diese Vergangenheit wollte niemand anrühren.“ Sie kneift wieder die Lippen zusammen.
„Da habt ihr einiges vor euch“, kommentieren Gäste in der Bar der Bürgermeisterin unsere anstehende Etappe. Und sie haben recht: Hinter dem Dorf stapfen wir einen schmalen Pfad hoch und höher, durch Gebüsch, über Weiden und den Wald, dem Gipfelgrat des Elixato zu. Schmierig und sumpfig ist der Weg. Spanien ist von Hitze und Dürre geplagt, aber hier, in den Bergen, die die Atlantiktiefs abfangen, ist alles durchweicht.
Wir machen ständig Höhenmeter. Die Kohlenhydrate, die wir uns in Form von Käsekuchen eingeschoben haben, können wir jetzt gut verwerten. Jäh geht es hinunter, dann gleich wieder hinauf. Zum Ortseingang von Leranotz. Auf einem gepflasterten Platz stehen gusseiserne Bänke mit verzierten Rückenlehnen, daneben Straßenlaternen in Retro-Optik. Man hat einen schönen Blick über das Land, die Sonne wärmt. Über den wenigen Häusern thront fast beschützend eine Kirche.
Was das für eine trügerische Idylle sein konnte, wusste Jovino Fernández genau. Einmal waren seine Verfolger dicht an ihm dran – ein Priester mit Gewehr und Patronengurt zusammen mit einer Gruppe Frauen. „Hier müssen wir ihn finden!“, schrie er. Ihre Hunde entdeckten Fernández, als ein Zweig unter ihm knackte. Er aber streckte die Hand aus, streichelte ihre Schnauzen – und nichts geschah.
Andere hatten weniger Glück. Zwei Männer aus Galicien fielen bei Leranotz ihren Häschern in die Hände. Ihr Grab passieren wir, ebenfalls eine Erinnerungsstätte. Ein Foto zeigt die exhumierten Skelette. Der Kiefer eines Schädels ist weit auseinandergerissen, wie ein posthumer Schrei.
Es ist schon früher Abend, als wir vom GR 225 abweichen und nach Lintzoain hinunterlaufen. Dass Jovino Fernández die Orte mied, ist verständlich, also macht das auch der GR 225. Logistisch bringt das aber Probleme: Wo schlafen?
Zwar haben manche Orte ein paar wenige Betten. Aber wir haben viel Wanderkonkurrenz. Als wir in Lintzoain die „Posada El Camino“ betreten, treffen wir auf einige Pilger. Denn: Ein kurzes Stück überschneiden sich der GR 225 und der Jakobsweg.
Als wir am nächsten Morgen auf den GR 225 einbiegen, sind wir wieder allein, zwischen Kuhherden und Pferden auf der Weide. Wir sind jetzt auf dem höchsten Abschnitt der Route, so umfassend wie nie schauen wir über das Land. Das Gelände wird alpiner. Auf einer Hochebene kommen wir an einer Schutzhütte vorbei und wärmen uns dort auf. Eine französisch-spanische Wandergruppe ordert Bier und beißt kraftvoll in die Bocadillos, die so mannigfach belegten Brötchenstangen.
Jovino Fernández war schon über eine Woche auf der Flucht, als er in diese Gegend kam. Er hatte von Eichenblättern gelebt und von Kräutern, die er für essbar hielt. Er war völlig entkräftet und der Polizei, Soldaten und Bürgerwehren täglich nur knapp entkommen. Sein Hunger war so existenziell, dass er eines Tages mit einem Stein ein Lämmchen erschlug. Er biss in den Schenkel und trank vor lauter Durst das Blut.
Später traf er einen Hirten, der ihn mit Brot und Käse versorgte und über Schmugglerpfade informierte, auf denen Menschen seit jeher Grenzwachen umgingen. Diese Pfade sind nun einer der schönsten Abschnitte des GR 225.
Wir steigen zu einem Bergsattel, um anschließend auf einer Trittspur durch prächtigen Bergwald zu wandern. Weg, Wasser, Hänge – alles senkt sich jäh. Dann erkennen wir den ersten Hof im Talgrund. Wir haben die Grenze überschritten. Urepel liegt vor uns, das erste Dorf in Frankreich.
Wir sind durchnässt und froh unser Hotel zu erreichen. Doch unsere Erleichterung ist wohl kaum vergleichbar, mit dem, was Jovino Fernández Gonzáles gefühlt haben muss: 13 Tage nach dem Ausbruch war er endlich in Freiheit. „Und noch mal die Wachposten ausgetrickst“, erzählte er hinterher den französischen Zeitungen. „Es waren die letzten. Und gleich war ich in Frankreich.“
Ein seltener Triumph. Zwei weitere Geflüchtete hatten es Tage vor ihm über die Grenze geschafft, 207 starben auf der Flucht, 585 wurden wieder auf die Festung gebracht. 14 Eingefangene später als Aufrührer hingerichtet.
„Zahlen, die einen schaudern lassen“, hat Fermín Ezkieta Yaben gesagt. „Ja, es ist ein Weg, der Emotionen hervorruft“, sagt auch Maria Carmen Lizoain Osinaga. „Aber es ist ein wichtiger Weg: Es ist ein Weg der Geschichte der kleinen, einfachen Leute.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe