Weiterreise nach Schweden: „Keiner soll zurückbleiben“
Mehr als 200.000 Euro haben Ehrenamtliche für Fährtickets von Travemünde nach Schweden ausgegeben. Aber die freiwillige Fluchthilfe hat Grenzen.
taz: Herr Kleine, warum kaufen Sie Flüchtlingen Fährtickets nach Schweden?
Christoph Kleine: Damit niemand am Terminal in Lübeck-Travemünde strandet. Wenn wir Unterstützer die Tickets kollektiv buchen, kriegen die Leute auch einen besseren Preis. Das politische Statement dahinter ist, dass es ein Recht auf Bewegungsfreiheit gibt – nicht nur für EU-Bürger. Wir wollen den Menschen helfen, Grenzen zu überwinden.
Wer ist wir?
Wir sind die Helfer im selbstverwalteten Zentrum Alternative auf der Wallhalbinsel „Walli“, ein breiter Querschnitt der Gesellschaft. Hier hilft nicht nur die Szene, die sich sowieso in diesem Haus bewegt hat, sondern ganz unterschiedliche Menschen erklären sich mit den Geflüchteten solidarisch. Das ist unglaublich bereichernd.
48, betreibt einen Spielzeugladen und engagiert sich seit 30 Jahren gegen Atomtransporte, die G7- und G8-Treffen und ist seit vier Wochen täglich auf der Walli, um den ankommenden Flüchtlingen zu helfen.
Wäre es nicht die Aufgabe des Staates oder der Stadt Lübeck, sich um die Weiterreise der Flüchtlinge zu kümmern?
Das ist eine schwierige Frage. Natürlich will ich Stadt und Staat nicht aus der Verantwortung entlassen. Sie müssen die Leute vernünftig versorgen. Aber realistisch gesehen halten sich die Leute hier ja nicht an Recht und Gesetz. Die Geflüchteten müssten sich registrieren lassen. Das machen sie aber nicht, weil sie nach Schweden wollen. Es hat deshalb keinen Sinn, auf einem prinzipiellen Standpunkt zu beharren und zu sagen, wer die Hilfe eigentlich leisten sollte. Zumal das Überwinden von Grenzen und das Nicht-Beachten des Dublin-Abkommens keine eigentlichen Aufgaben staatlicher Stellen sind.
Wie viel Verantwortung sollten Helfer dem Staat abnehmen?
Die Grenze ist für uns die Flüchtlingsunterbringung. Es ist in der Tat eine staatliche Aufgabe, die Geflüchteten anständig zu versorgen. Wenn wir aber darüber sprechen, welche Aufgaben der Staat übernehmen soll, müssen wir auch darüber reden, was er lassen soll.
Und das wäre?
Diese ganzen Schraubereien am Asylrecht und die Versuche, die Leute wieder in Kontingente einzuteilen und irgendwo durch die Gegend zu schieben. Es ist absurd zu denken, man könnte jetzt mit Repressionen auf diese Bewegung reagieren.
Wie sind Sie dazu gekommen, auf der Walli zu helfen?Ich habe einen Anruf von Helfern aus Hamburg bekommen. Da saßen die Geflüchteten schon im Zug nach Lübeck, wussten aber nicht, wie sie danach Richtung Schweden weiterkommen sollten. Was macht man da? Wir haben hier ein Haus, haben die Tür aufgemacht und dann ging es halt los.
Wann ging es los?
In Lübeck wurden am 8. September ungefähr 200 Leute von der Bundespolizei aus dem Zug in Richtung Kopenhagen geholt. Die waren da auf dem Bahnsteig und mussten sich selbst für ihre Weiterreise stark machen. Wir haben sie unterstützt. Einige Aktivisten sind sogar mit nach Dänemark gefahren. Hinter der Grenze wurden die Geflüchteten wieder fast einen Tag lang festgehalten, bis weiter reisen durften. Damit hat es angefangen. Und am nächsten Tag standen einfach wieder Leute vor der Tür, die nach Schweden wollten und es ging weiter. Wie unterstützen Sie die Flüchtlinge?
Wir haben Dolmetscher und Helfer, die zum Lübecker Bahnhof gehen und die Leute in Empfang nehmen. Wenn die Geflüchteten hier ankommen, wird das so genannte Booking gemacht. Es wird geguckt, wann ist die nächste Fährabfahrt. Dann gibt es eine warme Mahlzeit, einen Tee und die Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen. Wenn die Menschen über Nacht bleiben, bekommen sie ein Bett. Für Familien gibt es spezielle Familienräume. Wir organisieren feste Schuhe und warme Jacken, Ärzte und andere medizinische Fachkräfte kümmern sich ehrenamtlich um die Leute. Dann begleiten wir die Menschen zur Fähre. Wie viele Flüchtlinge kommen pro Tag auf der Walli an?
Das ist unterschiedlich. Meistens zwischen 200 und 400 Menschen.
In welcher Verfassung sind die Menschen?Manchen merkt man die Erschöpfung und die lange Reise deutlich an. Andere haben gesundheitliche Probleme, wie Erkältungen oder wund gelaufene Füße. Die Wege, die die Menschen hinter sich haben, sind sehr unterschiedlich. Im Schnitt sind sie einen Monat unterwegs gewesen. Es ist aber meistens eine gewisse Vorfreude zu spüren, weil sie jetzt ihre letzte Etappe vor sich haben.
Bekommen Sie Unterstützung von der Stadt Lübeck?
Der Lübecker Stadtverkehr stellt den Bus, mit dem wir die 15 Kilometer von unserem Zentrum zum Fährhafen fahren. Die Stadt hat uns ein paar Dixi-Klos und ein zusätzliches Gebäude zur Verfügung gestellt. Da ist jetzt ein Ruheraum für wartende Leute drin. Was wir aber eigentlich hinkriegen müssen ist der normale Alltag im Zentrum. Da treffen sich normalerweise Gruppen oder es finden Konzerte statt. Im Moment ist das komplett lahm gelegt. Der Konzertsaal ist zum Schlafsaal geworden und in den Kneipen werden die Menschen jetzt verpflegt. Wir brauchen deshalb mehr Platz. Auf dem Gelände steht noch ein Gebäude von der Stadt leer. Das brauchen wir eigentlich auch. Aber die Stadt spielt auf Zeit.
Wie geht es denn den Helfern in Lübeck?
Es ist für uns alle eine ziemlich große Anspannung. Seit vier Wochen herrscht hier Ausnahmezustand. Gleichzeitig gibt einem die Arbeit total viel. Wir haben einen unglaublichen Respekt vor den Geflüchteten, was sie für einen Weg hinter sich haben und was sie für Grenzen überwunden haben. Sie haben riesige Veränderung in Europa bewirkt. Wir hoffen, dass die Politik diese geöffneten Grenzen nie wieder schließt.
Aber sind nicht auch die Helfer nach vier Wochen Ausnahmezustand erschöpft?
Es geht. Wir haben Schichtpläne und es hat sich eine Routine entwickelt. Klar knirscht es immer mal irgendwo, aber im Großen und Ganzen funktioniert es für alle gut.
Ist es für Sie manchmal schwierig, mit den Geschichten der Menschen konfrontiert zu sein?
Es gibt schon bewegende Momente und da steckt immer ein großer Teil Hoffnung drin. Wir haben es mit Menschen zu tun, die ihren Weg gemacht haben, die in Europa alle Zäune eingerissen haben. Und wir können ihnen dabei helfen. Das ist nicht deprimierend. Schwierig ist es für mich eher, mich davon zu distanzieren und auch mal nach Hause zu gehen.
Sind noch immer so viele Unterstützer wie am Anfang vor Ort?
Wir müssen vielleicht zweimal öfter fragen, aber wir kriegen die Leute zusammen. Es gibt eine Kerngruppe von 50 Unterstützern, die fast jeden Tag da sind. Das Zentrum ist 24 Stunden besetzt. Dazu kommt noch ein weiterer Kreis von mehreren hundert Helfern, die unregelmäßig vorbeikommen.
Sie sind auf Spenden angewiesen. Läuft das?
Man muss den Nachdruck und die Werbung immer ein klein bisschen erhöhen. Wir haben für die Fährtickets schon mehr als 200.000 Euro ausgegeben. Ungefähr die Hälfte wurde von den Geflüchteten selbst bezahlt. Manche können das, andere haben einfach nichts. Es soll aber keiner zurückbleiben. Deshalb brauchen wir die Spenden.
Wie vielen Flüchtlingen haben Sie die Überfahrt ermöglicht?Schon mehr als 5.600 Menschen.
Wie lange kann so ein ehrenamtliches Hilfesystem noch gut gehen?
Bis Weihnachten soll unsere Hilfe auf jeden Fall so weitergehen. Und natürlich wünschen wir uns langfristig einen Zustand, in dem die Grenzen in einer Art und Weise offen sind und unsere Assistenz nicht mehr benötigt wird.
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