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Weißer Ring Hamburg fordert ReformenMehr Gehör für Verbrechensopfer

Die Hilfsorganisation Weißer Ring Hamburg will, dass eine Opfer­berichterstattung verpflichtend wird. Die grüne Justiz­senatorin ist dagegen.

Ein Ort, an dem es um Taten geht, die Leben beendet oder zerstört haben: Strafjustizgebäude Hamburg Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Hamburg taz | Vor über zehn Jahren wurde Mel D. an der Hamburger S-Bahn-Haltestelle Jungfernstieg ermordet. Einfach erstochen, „weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war“, sagt Kristina Erichsen-Kruse. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Hilfsorganisation Weißer Ring Hamburg und hat im Prozess 2010 die Familie von D. begleitet. Der damals 16-jährige Täter wurde wegen Totschlags zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt.

Einen besonderen Einfluss auf das Urteil hatte nach Erichsen-Kruses­ Ansicht ein Bericht der Eltern, der nach Einwilligung der Staatsanwaltschaft verlesen wurde. Darin habe die Familie erklärt, was diese „unüberwindbare Zäsur“ mit ihrem Leben und dem der verbliebenen Geschwister gemacht habe. „Das war den Eltern wichtig. Und ein Gericht kann nicht ignorieren, wenn eine Familie schreibt, ihnen sei das Herz aus dem Leib gerissen worden.“

Verfasst haben die Eltern den Bericht eigenständig. Doch das muss nicht so sein: Die Staatsanwaltschaft kann bei der Gerichtshilfe eine sogenannte Opferberichterstattung in Auftrag geben. So steht es in Paragraf­ 26 des Hamburgischen Resozialisierungs- und Opferhilfegesetzes. Die Gerichtshilfe schreibt dann von Gewalt Betroffene oder ihre Angehörigen an. Sofern diese das wollen, kann ein Opferbericht verfasst werden, der im Prozess von der Staatsanwaltschaft verlesen wird.

„Es geht dabei um das Schicksal Betroffener“, erklärt Erichsen-Kruse. „Darum, was zwischen der Tat und dem Prozess passiert ist, wie die Tat das Leben beeinflusst hat.“ Der Bericht sei ein Bild über den Zustand Betroffener. So könne Gericht, Ver­tei­di­ge­r*in­nen und auch Tä­te­r*in­nen noch einmal vor Augen geführt werden, „was sie da angerichtet haben“.

Es geht um Straftaten, die schwere Traumata auslösen

Eben weil so ein Bericht einen Einfluss auf ein Urteil habe, verstehe sie auch, wenn Ver­tei­di­ge­r*in­nen das nicht wollten. „Aber das ändert nichts daran, dass die Berichte nötig sind. Ein Opfer kann sich vor Gericht nicht so mitteilen, wie das in einem Opferbericht möglich ist.“

Es gehe primär darum, dieses Vorgehen bei schweren Straftaten zu etablieren. Tötung, versuchte Tötung, Sexualstraftaten, gefährliche Körperverletzung – „immer verbunden mit schweren Traumata“, so Erichsen-Kruse. Diese Ereignisse seien „der absolute Supergau“ im Leben Betroffener. Deswegen will der Weiße Ring aus der Option der Staatsanwaltschaft eine Pflicht machen. In Hamburg werde das Instru­ment sonst nicht genutzt. Ein Gespräch mit der Hamburger Justizsenatorin stehe noch aus.

Die Behörde der Grünen Anna Gallina zeigt sich offen: „Wir stehen dem Weißen Ring jederzeit für Gespräche zur Verfügung“, schreibt ihr Sprecher Dennis Sulzmann. Ihnen liege viel an „Verbesserungen für Kriminalitätsopfer“. Eine Verpflichtung der Staatsanwaltschaft, die Gerichtshilfe mit Opferberichterstattungen zu beauftragen, hält er aber nicht für sinnvoll.

Zum einen könne solch ein Bericht die normale Vernehmung als Zeu­g*in nicht ersetzen. Zum anderen könne eine „obligatorische Anordnung durch eine weitere staatliche Stelle“ für Betroffene „eine zusätzliche Belastung“ darstellen. Sulzmann ergänzt, dass auch die Möglichkeit der Opfer, als Ne­ben­klä­ge­r*in­nen aufzutreten, gewährleiste, dass ihre Sicht im Prozess beachtet werde.

Die zusätzliche Belastung für Opfer fürchtet auch Lena Zagst, justizpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion. Laut der Hamburger Oberstaatsanwältin, Liddy Oechtering, könnten „wiederholte Befragungen“ sogar „den Beweiswert der Aussage negativ beeinflussen“.

Um ein Ersetzen der Zeu­g*in­nen­aus­sa­ge gehe es gar nicht, sagt Erichsen-­Kruse. Sondern vielmehr darum, dass die Aussage selbst nicht ausreiche, um die Umstände im oft zerstörten Leben der Betroffenen angemessen zu schildern. Und Opfer müssten bei dem Bericht natürlich auch nicht mitmachen.

Der Weiße Ring hat noch eine weitere Forderung: einen Opferfonds, aus dem Schmerzensgeld ausgezahlt werden kann. Für Jugendstrafverfahren gibt es das bereits. Erwachsene Straf­tä­te­r*in­nen müssen für Schmerzensgeld aber selbst aufkommen – und können dies oft nicht, sagt Erichsen-Kruse. Die Zahlung bleibe entsprechend aus. Zwar könnten Opfer einen 30 Jahre haltenden Schuldtitel erwirken, müssten sich aber stetig selbst darum kümmern. „Sie werden von den Behörden alleine gelassen.“

Die Staatsanwaltschaft, so die Idee des Weißen Rings, müsste dafür sorgen, dass der Fonds gefüllt werde. „Eine mühsame Arbeit“, weiß die Vorsitzende. Ein Weg könne sein, vom Lohn, den Verurteilte im Gefängnis für ihre Arbeit erhalten, monatlich ein wenig abzuzweigen.

Die Justizbehörde weist in dem Zusammenhang auf eine Stiftung hin, die erwachsenen Straffälligen ohne ausreichend Geld zinslose Darlehen gebe „zur Wiedergutmachung der den Opfern/Geschädigten entstandenen materiellen und immateriellen Schäden im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs“.

CDU will Opferschutz in Bürgerschaft thematisieren

Laut Bundesjustizministerium ist der Täter-Opfer-Ausgleich ein Instru­ment zur außergerichtlichen Konfliktbewältigung. Es gehe um freiwillige Wiedergutmachung; bestenfalls profitierten Opfer und Täter von der Konfrontation miteinander. Besonders für mittelschwere Taten, aber durchaus auch für schwere Verbrechen sei er geeignet, so die Ansicht im Ministerium. Dem schließt sich auch Staatsanwältin Oechtering an. Erichsen-Kruse sieht das anders: der Täter-Opfer-Ausgleich sei für schwere Straftaten nicht geeignet. „Die Opfer wollen oft nicht mit dem Täter zusammenkommen.“

Die grüne justizpolitische Sprecherin Zagst hält die Debatte über einen Opferfonds für Erwachsene für „grundsätzlich sinnvoll“. Die CDU hat bereits 2016 und 2018 solch einen Fonds gefordert, so Richard Seelmaecker, justizpolitischer Fraktionssprecher. „SPD und Grüne haben damals beide Initiativen abgelehnt. Auch eine von der Union unterstützte Initiative der FDP zur Opferberichterstattung.“

Linke sieht Nachholbedarf

In der nächsten Bürgerschaftssitzung werde die CDU-Fraktion einen Antrag einbringen, der erneut auf die Stärkung der Opfer vor Gericht abzielt: Unter anderem solle sich der Senat im Bundesrat dafür einsetzen, dass Nebenklagen bei Verfahren gegen Jugendliche genauso möglich sind wie bei solchen gegen Erwachsene. „An der Schutzbedürftigkeit des Opfers ändert sich nichts, wenn der Täter Jugendlicher ist“, heißt es in dem Antrag.

Die Linksfraktion sieht im gesamten Bereich „erheblichen Nachholbedarf“, so die verfassungsrechtliche Sprecherin Carola Ensslen. Neben den Forderungen des Weißen Rings müsse die psychosoziale Prozessbegleitung ausgebaut werden, bereits während der Ermittlungen. Bedarf für einen Fonds sieht die Fraktion „für Opfer von sexualisierter Gewalt, sowie Opfer von rassistischen, antisemitischen und anderen menschenfeindlichen Straftaten“.

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