Weideschlachtung statt Schlachthof: Nur ein Ablenkungsmanöver
Industrielle Schlachthöfe stehen in der Kritik, Weideschlachtung gilt als angesagte Lösung. Das Problem ist: In der Praxis spielt sie keine Rolle.
Rund 100 Gerichtsverfahren umfasst derzeit allein die Aufarbeitung der Vorgänge um den stillgelegten Schlachthof Temme im niedersächsischen Bad Iburg bei Osnabrück. Vom „größten Tierschutz- und Schlachtskandal der deutschen Geschichte“ spricht Friedrich Mülln, Kopf der Münchner Tierrechtsorganisation „Soko Tierschutz“, von einem „kriminellen Netzwerk“, von „Horror“. Seine Soko hat die Missstände aufgedeckt, sieht in ihnen ein „grauenhaftes Beispiel dafür, wie weit Menschen gehen, um Profit aus Tieren zu schlagen – wortwörtlich“.
Es sind Taten wie diese, vor deren Hintergrund sich die Entschließung des Bundesrats vom Juni 2020, die Weideschlachtung zu erweitern, wie eine Erlösung anhört. Die Bundesregierung möge „die nationalen Ausnahmeregelungen erweitern“. Weidehalter sollen so auch Rinder und Schweine vor Ort schlachten dürfen, die nur saisonal im Freien leben, nicht nur, wie bisher, Rinder, die ganzjährig draußen stehen.
Weideschlachtung ist derzeit ein politisches Modewort: Schneller, stressfreier Tod in vertrauter Umgebung. Stärkung der bäuerlichen Kleinlandwirtschaft, der handwerklichen Verarbeitung; bessere Fleischqualität; keine Verletzungen durch Einfangversuche auf der Weide, durch die Fahrt im Lkw zum Schlachthof. Gewehrkugel oder Bolzen schlägt ein, Herde grast weiter, fertig. Aber eine wirkliche Rückenstärkung für den Tierschutz ist das nicht.
„Weideschlachtung erfüllt jetzt, wofür Bio vor ein paar Jahren genutzt wurde“, sagt Friedrich Mülln. Sie sei „eine Ausrede und Ablenkung von der 99,99 Prozent Massentierhaltung und Quälerei, ohne jemals relevant für die Tierproduktion zu sein“. Zudem sei die Überwachung bei einer immer stärkeren Zergliederung der Tiertötungen unmöglich und öffne „neuen Problemen Tür und Tor“. Sein bitteres Fazit: Die Forcierung eines so marginalen Themas zeige, dass man nur davon ablenken wolle, „dass man im Kampf gegen die Massentierhaltung versagt hat“.
Dass Weideschlachtung ein Phänomen der sehr kleinen Zahl ist, illustriert ein Blick auf Niedersachsen, deutschlandweit führend in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung. Von 2015 bis 2020 wurden hier in 75 Betrieben 1.002 Tiere in Weideschlachtung getötet. Zum Vergleich: 2020 wurden hier pro Monat allein bis zu 1,6 Millionen Schweine geschlachtet.
Niedersachsen hat im Bundesrat für die Erweiterung der Weideschlachtung gestimmt. Aber als Dana Guth (damals noch AfD) im August 2020 im Landtag in Hannover wissen wollte, wie viele niedersächsische Viehhaltungsbetriebe Weideschlachtungen durchführen würden, war die Antwort des Landwirtschaftsministerium: 30 hätten „Interesse“ bekundet, aus 13 Landkreisen. Nicht viel.
Wer in Niedersachsen Weideschlachtung betreibt? Sogar Wolfgang Ehrecke, Sprecher der Landwirtschaftskammer Niedersachsen in Oldenburg, muss auf taz-Anfrage passen: „Die zwei Fachkollegen, die ich dazu befragen konnte“, bedauert er, „hatten leider keine Kontakte zu Betrieben auf Lager.“
Auch die Landtagsfraktionen der niedersächsischen SPD und der CDU springen auf das Thema auf. Mitte Januar haben sie dazu einen gemeinsamen Entschließungsantrag eingebracht. Durch „zahlreiche tierschutz- und arbeitsrechtliche Verstöße in der jüngsten Vergangenheit“ schwinde „die gesellschaftliche Akzeptanz für das zentrale System ‚Schlachthof‘“. Auch von einem „hohen ethischen Anspruch und Respekt vor dem Tier“ ist da die Rede, man wolle Angst und Leid „in den letzten Stunden“ ersparen.
Klingt natürlich gut. Und in Weideschlachtung getötete Tiere haben es definitiv besser als andere. Schon allein deshalb, weil sie überhaupt eine Weide haben. Aber daran, dass sie zum Verzehr getötet werden, ändert das nichts, nur am Wo und Wie.
Für die beim Asta der Universität Osnabrück angesiedelte „Tierrechtsinitiative Osnabrück“, der Horrorschlachthof Temme ist keine halbe Autostunde entfernt, ist die Sache klar: „Tiere werden in jedem Szenario, das die Produktion tierischer Erzeugnisse zum Ziel hat, nur als Ware gesehen und speziell dafür gezüchtet, gemästet und getötet. Daran ändert die Haltungsform grundsätzlich nichts.“ Die Weidehaltung und -schlachtung sei allerdings „das kleinere Übel“.
Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) habe den Bundesratsbeschluss „im Grundsatz begrüßt“, sagt eine Sprecherin des BMEL. Da es zu dieser Zeit bereits Diskussionen zu einer EU-weiten Lösung gegeben habe, habe das BMEL dieser jedoch „den Vorzug gegenüber nationalen Regelungen gegeben“. Resultat war der Entwurf einer Delegierten-Verordnung der EU-Kommission. Er sehe unter anderem „die Nutzung einer mobilen Einheit als Teil eines zugelassenen Schlachtbetriebes“ vor, sagt Sabine Hildebrandt, Sprecherin des Niedersächsischen Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Entschieden ist aber noch nichts.
Filiz Polat, Grünen-Bundestagsabgeordnete aus dem Landkreis Osnabrück, kritisiert die Bundesregierung für ihr Nichtstun. Sie fordert eine einheitliche Regulierung für Weideschlachtung, mobile Schlachtung und hofnahe Schlachtung: „Die Genehmigung der teilmobilen Schlachtung und der Weideschlachtung innerhalb der Bundesländer und innerhalb der Landkreise eines Bundeslandes ist an unterschiedliche Auflagen gebunden. Die Lockerung und Anpassung behördlicher Auflagen ist daher zentral für die Weiterentwicklung von Systemen für das Schlachten im Haltungsbetrieb.“
Das wird, wie immer die EU, Deutschland und die Bundesländer auch entscheiden, eine Ausnahme bleiben. Reduziert sich unser Fleischkonsum nicht drastisch, ist er allein aus Weideschlachtung nicht zu decken. Immerhin: Investitionen, die der mobilen Schlachtung dienen, sind förderfähig. Landwirte mit dem Gewehr auf dem Weg zu Weide? Vielleicht bald ein vertrauterer Anblick.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Verfassungsrechtler für AfD-Verbot
„Den Staat vor Unterminierung schützen“