Weibliche Selbstbefriedigung: Die Scham da unten
Selbstbefriedigung von Frauen war lange ein heikles Thema, nur verschämt diskutiert - bis die Literatur sich der weiblichen Sexualität annahm.
Die 18-jährige, als hysterisch diagnostizierte Patientin Th., notierte der Arzt penibel, habe bei der verschriebenen Stimulation "Oui! Oui!" ausgerufen. Des Weiteren habe sie ihren Kopf hin und her geworfen, "bis ihr Körper sich für ein paar Sekunden wie ein Bogen spannte". "La vulve", bemerkt er weiter, "est humide", und wer es, wie der Arzt Désiré Magloire Bourneville trotz seiner pingeligen Beobachtung im Jahr 1878, immer noch nicht mitgekriegt hat: Die Frau hatte einen Orgasmus. Und das ganz ohne ehelichen Verkehr.
Bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts galt Selbstbefriedigung als krankheitserregend oder zumindest sozial stark umstritten. In den Jahrhunderten davor spielte sie, wie es der Historiker Thomas W. Laqueur in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch "Die einsame Lust - Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung" beschreibt, erstaunlicherweise lange Zeit eher eine gemütlich-akzeptierte Nebenrolle: Der Forscher datiert den Anfang der modernen Masturbationsgeschichte, den "Urtext der Literatur über Selbstbefriedigung" auf ungefähr 1718.
Um dieses Jahr herum erschien in England ein kleines Bändchen, das die Gefahren der "widerwärtigen Gewohnheit der Selbstbefleckung" auflistet und, viel wichtiger, ein paar zeitgemäß unappetitliche Tinkturen anpreist, die einen davor bewahren sollten, direkt nach dem Orgasmus tot oder irre umzukippen. Der Verfasser dieses sich schnell zum internationalen Bestseller entwickelnden Keuschheitsleitfaden war laut Laquer ein chirurgischer Quacksalber namens John Marten. Schlau vertickte er gleich selbst jene heilende Medizin, welche die Handanleger vor dem Verderben retten sollte. Dass er nebenbei Pornoheftchen produzierte, lässt seinen hinterlistigen Geschäftssinn erahnen.
Die Selbstbefriedigung von Frauen (und Männern) war also erst einmal für Jahrzehnte tabu. Und genauso weit entfernt vom modernen Dildo. Dessen erstaunliche Herkunft erzählt ein anderes Buch: Bereits 1999 erschien - bislang nur auf Englisch - ein Werk der Historikerin Rachel P. Maines, die 20 Jahre vorher bei ihren Recherchen zum Thema "Textilgeschichte" in Handarbeitsmagazinen der Jahrhundertwende auf jede Menge Vibratorenwerbung gestoßen war. Nachdem sie neugierig begonnen hatte, diese Anzeigen zu sammeln und mit der Industriestruktur der damaligen Zeit zu vergleichen, versuchte sie, den Verbleib der Unmengen von Geräten und ihren Zusammenhang mit der Geschichte der weiblichen Sexualität zu erklären.
In "The Technology of Orgasm - Hysteria, the Vibrator and Womens Sexual Satisfaction" legt sie ihre Forschungsergebnisse dar: Ausgehend von Laquers und anderer Wissenschaftler Feststellungen über die Verdammnis jeglicher Form von Selbstbefriedigung, und der ebenfalls seit dieser Zeit negierten Tatsache, dass nur die wenigsten Frauen beim stinknormalen Verkehr Orgasmen erleben, beschreibt sie die damals diagnostizierte "pathologische Hysterie".
Die Sexualität von Frauen galt prinzipiell als nicht gesund - gesund war, wer beim vergleichsweise lahmen Missionarsbeischlaf kam. Alle anderen um die 90 Prozent waren als hysterische Patientinnen zu behandeln. Doch nicht etwa das entweder extrem verpönte oder sogar fast in Vergessenheit geratene Selbsthandanlegen wurde verschrieben, um den Frauen ein paar schöne Stunden zu ermöglichen.
Stattdessen war das vom bärtigen Doktor - zuweilen auch einer Hebamme - anfangs mit der Hand, später mit dem Hilfsgerät Vibrator vorgenommene "Manipulieren des Unterleibs" zur Entspannung des armen kranken Weibsbilds, von T. C. Boyle in seinem Roman "Welcome to Wellville" wunderbar parodiert, eine überaus gängige und weit verbreitete Arztpraxis, die, so mutmaßt Maines, eventuell in den ersten Jahren tatsächlich nicht in Zusammenhang mit Sexualität gebracht wurde - jener französische Arzt, den die orgasmischen Schreie seiner Patientin so überraschen, hat demnach noch nie etwas mit einem weiblichen Höhepunkt am Hut gehabt. Ob er verheiratet war, ist nicht übertragen. Aber: Immerhin haben die Frauen weiland bestimmt nicht vorgetäuscht.
Denn obwohl sich spätestens seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts herumgesprochen hat, dass es einen weiblichen Orgasmus gibt, dass er Frauen tatsächlich genauso viel Spaß macht wie Männern der ihre und dass jene Damenmehrheit, die mehr als Rein-raus braucht, nicht frigide ist, scheint die technische Schwierigkeit, einen zu erzielen, immer noch hinter der Erkenntnis zurückzustehen.
Was die nach wie vor übliche Harry-und-Sally-Stöhn-Praxis erklärt. Eventuell ist also John Marten mit seiner Masturbationsgefahr und der immer noch recht weit verbreitete Mythos der frigiden Frau mitverantwortlich für die Aufmerksamkeit, die Selbstbefriedigung bei Frauen noch heute erregt. Schreibt eine genau drüber, wie sie es sich macht, kann sie sich der Leserschaft sicher sein, egal wie unstrukturiert ihr Buch ansonsten zwischen Krankenhausbett, Krankenhauskorridor und Avocadokernzüchtung daherschleicht. Fast 300 Jahre nach dem von Laquer und anderen datierten Anfang der Verdammung der Onanie und knapp 30 Jahre nach ihrem offiziellen Ende (sogar die American Medical Association hatte, wie Kinsey bereits in den 50ern, in den 70ern aufgeschnappt, dass bis auf unglückliche und doch relativ seltene Staubsauger-und-Flaschenhals-Verletzungen von der Ungefährlichkeit der befriedigenden Solo-Nebentätigkeit ausgegangen werden kann) gibt es aber noch immer Mythen.
Eine davon scheint zu sein, dass Frauen, von denen laut unterschiedlich seriöser und signifikanter Statistiken zwischen 70 und 80 Prozent regelmäßig onanieren, es gern etwas sanfter, weicher, David-Hamilton-mäßiger und im Ganzen weniger pornoaffin hätten. Sie wollen Geschichten, sie sind sogar bereit, einen Buchdeckel zu öffnen und sich gemächlich in Lustlaune zu schmökern - anstatt sich schnell und unkompliziert mit der Erklärung, "Im over 18 years of age" in die umfassende Internetpornowelt einzuklicken. "Das Internet spielt für Männer beim Thema Erotik eine größere Rolle", bestätigt Jennifer Hirte, Programmleiterin der neuen Reihe "Anais" aus dem Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf.
Vier Titel mit der Unterzeile "Erotischer Roman" sind soeben erschienen, alle von Frauen geschrieben, vier sollen noch folgen. In den Büchern wird sich explizit verlustiert: In "Frühling und so" von Rebecca Martin irrlichtert eine 17-jährige, extrem pubertierende Schülerin von Verliebtsein zu Verknalltsein und wieder zurück, in "Adele hat den schönsten Mund" von der Britin Anna Clare wird das verschlungene Liebesleben mehrerer, teilweise bisexueller und transidentischer Frauen und eines Mannes erzählt, drei US-amerikanische Autorinnen haben in "Lara, Jill & Lea" Kurzgeschichten zwischen fantasieschönen Frauen und Männer ersonnen, in denen sich Körper "mit einer explosiven Chemie in purer, urwüchsiger Vereinigung" treffen und beim Höhepunkt "von einem führerlosen Güterzug durchjagt" werden, und in "Spieler wie wir" macht sich eine Wohngemeinschaft aus zwei Berliner SM-Frauen auf zu neuen Ufern.
Vor allem die Autorinnen aus den USA und England bedienen dabei bewusst Sex- und Pärchen-Klischees, erzählen von geilen Männer und Frauen, die beim besonders starken Orgasmus Heiratsanträge machen, von seidenweichen Locken, dunkel vor Verlangen schwelenden Augen, Balsam der Lust und pulsierenden Schwänzen. Aber warum sollte man auch von Büchern, die als Wichsvorlagen funktionieren, Literatur erwarten? Schließlich unterscheidet man im Filmbereich ja schon lange zwischen (Soft-)Pornos und anderen Filmen, und über die fehlende oder komplett hirnverbrannte Handlung in "Arschparade III" regt sich nur auf, wer nicht davor masturbieren, sondern eigentlich ins Kino wollte.
Vielleicht muss man die streckenweise dürftig geschriebenen und langweiligen, aber durchaus intentionalen Romane also einfach als Zeichen dafür sehen, wie selbstverständlich sich Selbstbefriedigung auch bei Frauen inzwischen mit dem Leben mischt. "Es soll schon möglich sein, die Bücher zum Onanieren zu nutzen", sagt Hirte, die ihre Magisterarbeit in Europäischer Ethnologie über "Frauen und Selbstbefriedigung" geschrieben hat. "Natürlich sind die Bücher auf Erotik fokussiert.
Denn das ist das Genre. Wir wollen ja nicht einfach Belletristik herausgeben, in der die Protagonisten auch manchmal Sex haben, sondern eine Reihe mit erotischer Literatur." Trotzdem habe man vor allem an den deutschen Titel sehr lange und genau gearbeitet, um sich auch sprachlich von der - größtenteils auf männliche Leser ausgerichteten - Schundheftchentradition abzusetzen. "Die amerikanischen und englischen Titel entsprechen eher dem klassischen Genre erotischer Romane", gibt Hirte zu. Immerhin hätten ihre Protagonistinnen jedoch übliche Berufe, lebten in ganz normalen Umwelten: "In dem Genre erotischer Roman gibt es sonst 98 Prozent Fantasiewelt, mit Wikingern, Aliens, Vampiren", sagt Hirte.
Dass der Markt auch international von Autorinnen dominiert wird, liege daran, dass vielen Frauen die Texte von Männern zu anatomisch und zu lieblos seien. "Wir bekommen jedes Mal heraus, wenn ein Text von einem Mann geschrieben ist, der sich als Frau ausgegeben hat." Wahrscheinlich weiß er einfach zu wenig über das geheimnisvolle Ding da unten. In einem Frauenblogeintrag zu diesem Thema flog ein heimlicher männlicher Schreiber jedenfalls jüngst auf, als er in leidenschaftlichster Technikbeschreibung von der abwechselnden Stimulation "des Kitzlers und der Klitoris" schwärmte. "Du Idiot", bloggten und blafften die aufgescheuchten Damen im Netz zurück. "Für wie blöd hältst du uns eigentlich!?"
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